Chronik

"Wien kann viel von uns lernen"

KURIER: Herr Landesrat, Peter Husslein, der Leiter der Frauenheilkunde am AKH Wien, hat jüngst gemeint, in Österreich und speziell rund um Wien gebe es zu viele Spitäler. Was antworten Sie ihm?

Wilfing: Der Standort bestimmt den Standpunkt. Wenn ich im AKH Wien tätig bin, betrachte ich natürlich Wien als das Maß aller Dinge. Aber als Flächenbundesland haben wir eben einen anderen Auftrag in der Gesundheitsversorgung. Wir müssen die Erreichbarkeit in der Fläche garantieren. 95 Prozent der Niederösterreicher sollen innerhalb von maximal 30 Minuten ihr nächstes Spital erreichen – das ist unsere Vorgabe. Und daher halten wir unsere Spitalsstandorte. Unser Motto ist: Schnellste Versorgung in der akuten Hilfe, beste Versorgung bei komplizierten Eingriffen. Daher sehen wir auch die Garantie von Spitzenmedizin in Schwerpunkten als Priorität.

Husslein hat aber kleinere Spitäler wörtlich als "gesundheitsgefährdend" bezeichnet. Die Wahrscheinlichkeit für Fehldiagnosen und Komplikationen sei größer, weil die Expertise fehlt.

Was Letzteres betrifft, hat er recht. Um Spitzenmedizin gewährleisten zu können, braucht man entsprechende Fallzahlen. Daher setzen wir stark auf Spezialisierung. Medizinische Grundversorgung gibt es in jedem Haus. Aber wir bieten nicht überall alle medizinischen Fächer an. Das wäre wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen. Wir könnten die Qualität nicht halten. Wir haben auch auf die medizinische Weiterentwicklung reagiert. Weil wir wissen, dass der durchschnittliche Aufenthalt in unseren Spitälern in den operativen Fächern kürzer wird: Daher haben wir rund 150 Betten umgewandelt – mehr Neurologie, mehr Diabetesbehandlung, mehr Geriatrieplätze und mehr tagesklinische Kapazitäten.

Es gab von Husslein auch Kritik daran, dass das Land in Baden und in Mödling je ein neues Spital baut – beide trennen nicht einmal 15 Straßenkilometer.

Da ist er sicher teilweise uninformiert. Laut Krankenanstaltengesetz braucht jede Region über 100.000 Einwohner ein Grundversorgungshaus. Betrachtet man die Bezirke Baden und Mödling, haben wir insgesamt 350.000 Einwohner. Und es sind die beiden am stärksten wachsenden Bezirke. Wir wissen, dass zwei Häuser in der Errichtung teurer sein werden, aber im Betrieb weitaus günstiger kommen als ein großes Haus. Die wirtschaftlichste Größe eines Krankenhauses liegt bei etwa 400 Betten, sagen internationale Studien. Mit Ausnahme unserer zwei Zentralkliniken St. Pölten und Wr. Neustadt wollen wir die Häuser ganz bewusst in dieser Größe belassen. Die Kliniken in Baden und Mödling werden aber als ein Haus geführt. Das heißt Schwerpunktbildung: Zum Beispiel ist die Unfallchirurgie in Baden, die Gynäkologie in Mödling angesiedelt. Dazu sei aber auch gesagt, dass unsere Schwerpunktsetzungen nicht in allen Häusern mit Freude gesehen wird.

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Was halten Sie vom Vorschlag, Spitäler aufzulassen und deren Infrastruktur anderweitig zu nutzen, etwa als Pflegeheime?

Was die Heime betrifft, sind wir in Niederösterreich hervorragend versorgt. Wir gehen eher den Weg in Richtung "Primary Health Care Center" wo wir mit Fachärzten kooperieren. Ambulanzen gehören grundsätzlich nicht zum Kerngeschäft der Spitäler. Gleichzeitig gehören bis zu 70 Prozent der Patienten in unseren Ambulanzen eigentlich zum niedergelassenen Arzt. Daher wollen wir das jetzt stärker verbinden und niedergelassenen Ärzten Platz und Struktur im Spital anbieten, um dort Patienten zu empfangen.

Die Verhandlungen zum Finanzausgleich stehen bevor. Da wird das Thema Fremdpatienten zwischen NÖ und Wien sicher wieder zur Diskussion stehen. Welche Strategien gibt es da?

Ich bin überzeugt, dass es weit schwierigere Fragen beim Finanzausgleich zu lösen geben wird. Wir begrüßen jedenfalls auch in diesem Bereich Schwerpunktsetzung. Nehmen Sie die Infektionskrankheiten: Der Schwerpunkt dafür soll meiner Meinung nach in Wien liegen. Das soll im Finanzausgleich geregelt sein und die sollen dafür in ihrem Zentrum, das es bereits gibt, auch Patienten aus Niederösterreich und dem Burgenland betreuen. Umgekehrt bilden wir bei der Lungenheilkunde mit der Klinik in Hochegg oder bei der Krebsbehandlung mit Wr. Neustadt auch Schwerpunkte fürs Burgenland.

Innerhalb der Wiener Politik wird das Thema Fremdpatienten aber als grundsätzliches Problem gesehen.

Nun, da gibt es ja zum Glück sehr gutes statistisches Material, was sich hier zwischen den Bundesländern bewegt. Und darauf basierend kann man zu einer fairen Lösung kommen. Patienten fahren aber nicht nur aus NÖ nach Wien. Nehmen Sie das Beispiel Klosterneuburg: 50 Prozent der Geburten dort sind Wiener. Und wenn wir schon über NÖ und Wien reden, möchte ich Peter Husslein schon eines mitgeben: In der Frage der Effizienz brauchen wir keinen Vergleich zu scheuen. Wir bauen in Baden und Mödling um 346,6 Millionen Euro zwei Häuser – und wir halten diese Summe und den Fertigstellungstermin punktgenau ein. Da kann Wien viel von uns lernen – wenn man sich das Beispiel Wien Nord anschaut.

Heiß wird die Diskussion zwischen Wien und Niederösterreich auch in der Frage der Fremdpatienten. Im Jahr 2014 lagen rund 99.000 Niederösterreicher in Wiener Spitälern, 15.000 Wiener ließen sich in NÖ behandeln (siehe Grafik). Auch aufgrund dieser Zahlen fordert Wien traditionell mehr Geld beim Finanzausgleich – die Verhandlungen stehen demnächst an.

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In NÖ argumentiert man, dass das AKH als größtes Wiener Spital laut dem Strukturplan des Gesundheitsministeriums "einen Versorgungsauftrag für die gesamte Gesundheitsregion Ost hat". Daher werde es auch vom Bund mitfinanziert und die Stadt erhalte zur Versorgung von Patienten aus Niederösterreich und dem Burgenland auch mehr Geld aus dem Finanzausgleich. Aber generell mache es wenig Sinn, in der Gesundheitsversorgung – gerade in Ballungsregionen – in Ländergrenzen zu denken.

KURIER: Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser sagt: "Österreich hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt." Sehen Sie das auch so?

Peter Husslein: Nein. Diese Aussage ist einfach nicht richtig. Ein paar Tatsachen: Wir haben im europäischen Vergleich keine besonders hohe Lebenserwartung; kaum wo geht die Bevölkerung so oft ins Spital; die Anzahl der Krankenstände ist überdurchschnittlich hoch; sehr viele Menschen gehen in medizinisch begründete Frühpension; und die Phase der Krankheitsjahre im Alter ist besonders lang. Das sind Indikatoren dafür, dass unser Gesundheitssystem in Hinblick auf die Effizienz nicht besonders gut sein kann. Ins Treffen wird zwar geführt, dass es keine Zugangsbeschränkung gibt. Das ist aber kein Qualitätskriterium, sondern ein Zeichen von Schwäche.

Warum denn?

Wenn man mit einem Scheidenpilz zur Notaufnahme kommt – am besten kurz nach der "Zeit im Bild", weil dann die Wahrscheinlichkeit, warten zu müssen, gering ist –, hat man das Gefühl, toll versorgt zu werden. Aber in Wirklichkeit ist das eine Ressourcen-Vergeudung. Die Mittel werden immer knapper – auch im Gesundheitswesen. Es ist eine fast ethische Verpflichtung, sich zu überlegen, wie man mit dem Geld und den Ärzten das Maximum an Gesundheit für die Bevölkerung erzielen kann. Aber das geht nicht in einem unkoordinierten System.

Weil es zu viele Beteiligte gibt?

Es gibt mehrere Kostenträger. Und jeder ist bemüht, die Ausgaben dem anderen Kostenträger zuzuspielen.

Wie eine heiße Kartoffel.

Oder wie einen Volleyball. Die Gebietskrankenkassen versuchen, ihre Kosten zu reduzieren, indem sie die Patienten vom niedergelassenen Bereich, zum Beispiel von den Arztpraxen, in die Verantwortung der Spitäler transferieren. Die Kassen jubeln dann, dass sie so gut bilanzieren. Zu zahlen aber haben dafür die Länder und zum Teil der Bund.

Versuchen nicht auch die Länder Kosten abzuwälzen?

Ja. Ein absurdes Beispiel aus der letzten Zeit: In Hainburg hatte eine Patientin eine gestörte Schwangerschaft, die einen Mini-Eingriff notwendig machte. Die Patientin wurde zu uns ins AKH geschickt – mit dem Argument, dass man sich mit der Patientin nicht verständigen konnte, weil es keinen Dolmetsch gab. Oder: Aus Wiener Neustadt wurde uns eine drogensüchtige, HIV-positive Frau zugewiesen, weil man sich bei der Erkrankung nicht auskenne. Wir haben die Frau wahrscheinlich wirklich besser betreut. Aber damit verschieben sich die Kosten: Niederösterreich hat sich einer Patientin mit einer teuren HIV-Medikation entledigt, bezahlt wird die Behandlung vom AKH – bzw. zu zwei Drittel von Wien und zu einem Drittel vom Bund.

Wenn wir von Vergeudung reden: Gibt es zu viele Spitäler?

Ja. Viele Spitäler entsprechen zwar dem Wunsch der Bevölkerung. Denn wenn man stationär aufgenommen werden muss, können am Nachmittag die Verwandten zu Besuch kommen. Aber kleinere Spitäler können gesundheitsgefährdend sein. Früher war die Medizin einfach – und der Transport schwierig. Daher war es vernünftig, an vielen Orten Spitäler zu errichten. Heute ist es umgekehrt: Die Medizin ist kompliziert – und der Transport einfach. Daher wäre es sinnvoll, zu dem Spital zu fahren, das die bestmögliche Versorgung garantiert. Beim Einkaufen ist das selbstverständlich geworden: Die Wolfsberger fahren ins Shoppingcenter nach Klagenfurt. Aber wehe, es würde das Spital geschlossen werden! Die Menschen wurden leider nicht darüber aufgeklärt, dass in kleinen Krankenhäusern die Wahrscheinlichkeit für Fehldiagnosen und Komplikationen größer ist. Eine Expertise kann sich eben nur entwickeln, wenn es ein bestimmtes Volumen an Krankheitsfällen gibt.

Die Landeshauptleute aber hüten sich davor, Krankenhäuser zu schließen.

Ja. Wenn man ein Spital schließt, verliert man viele Arbeitsplätze. Zudem tun sich die Länder leicht: Sie decken die Defizite aus dem Betrieb der Spitäler über den Finanzausgleich mit dem Bund ab. Die Landespolitiker haben also kein Interesse, Kosten zu sparen. Sie bedenken aber leider nicht, dass man die Infrastruktur anders und sinnvoller nutzen könnte. Zum Beispiel als Altersheim oder als Gesundheitszentrum. Der Bedarf an diesen Einrichtungen steigt enorm. Die Arbeitsplätze würden daher erhalten bleiben. Das Problem ist aber, dass dann jemand anderer die Kosten übernehmen müsste, die Kassen zum Beispiel. Und die weigern sich.

Es wäre naheliegend, die Krankenhäuser von Hartberg und Oberwart zusammenzulegen – oder von Korneuburg und Klosterneuburg: Der Bau einer Donaubrücke würde sich schnell amortisieren.

Oder die Spitäler von Horn und Mistelbach, von Mödling und Baden. Es gibt eine Fülle von Krankenhäusern rund um Wien, die nicht notwendig wären. Leider machen die Landesfürsten die Gesundheitspolitik. Und sie machen in Wirklichkeit nicht Gesundheitspolitik, sondern nur Standortpolitik. Wenn man die Bundesländer abschaffte, könnte man die Gesundheitsorganisation wesentlich vereinfachen. Und das würde der Gesundheitsministerin tatsächlich die Möglichkeit geben, strukturell entscheidende Impulse zu setzen. Derzeit aber hat sie praktisch nichts mitzureden. Sie kann nur die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen vergrößern.

Sie kritisieren die kleinen Spitäler als ineffizient. Aber auch im AKH stehen am Nachmittag die Operationssäle leer.

Das ist natürlich längst nicht mehr zeitgemäß. Kein Betrieb würde in der freien Marktwirtschaft überleben, wenn er nur von Montag bis Freitag und nur von 7 bis 15 Uhr produziert. Die Sanatorien und Privatspitäler haben längst umgedacht. Dort wird auch am Wochenende operiert. Denn die Erhaltung der Infrastruktur kommt extrem teuer.

Warum ändert man das nicht auch in den Krankenhäusern?

Eben weil es zu viele Spitäler gibt. Und weil man aus politischen Gründen nun noch ein weiteres Spital baut – das SMZ Nord. Für dieses gibt es meiner Meinung nach keinen medizinischen Bedarf. Denn der Transport ist, wie schon festgestellt, einfach. Es ist also zumutbar, aus der Donaustadt über die Nordbrücke ins AKH zu fahren. Es wäre viel klüger gewesen, nicht das Krankenhaus Nord zu bauen, sondern das AKH aufzurüsten. Wir könnten neben der Spitzenmedizin und der Forschung auch Belange des "Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien" abdecken, also die Basismedizin. Aber leider wurde das AKH heruntergefahren, der Personalstand reduziert. Und das könnte bedeuten, dass die Struktur langfristig zu groß ist. Ich musste unterschreiben, dass wir pro Jahr nur noch 2500 Geburten durchführen – weil eine Geburt, die nicht die Infrastruktur eines zentralen Universitätsspitals braucht, zu teuer kommt. Obwohl wir von den räumlichen Gegebenheiten her problemlos 5000 machen könnten.

Und das haben Sie auch?

Eine Zeit lang haben wir 4000 geschafft. Das AKH, in den 1970er-Jahren geplant, ist viel zu groß gedacht. Beziehungsweise: Man hat nicht einkalkuliert, dass es Weiterentwicklungen gibt. Früher führte man bei gynäkologischen Operationen einen Bauchschnitt durch – und die Patientinnen sind durchschnittlich eine Woche bei uns gelegen. Heute macht man kleine Löcher, daher erholen sich die Patientinnen sehr viel schneller. Sie bleiben nur eine Nacht. Man könnte die Operationen sogar tagesklinisch machen. Die Folge ist, dass man sehr viel weniger Betten braucht. Und das wird ein großes Problem. Denn die Erhaltungskosten fallen trotzdem an. Und die sind enorm. Eigentlich müsste man einen der beiden Bettentürme sprengen. Ich meine das aber nur metaphorisch – man könnte ihn ja anderwärtig nutzen, zum Beispiel als Privatstation. Was ich sagen will: Diese prekäre Situation hätte verhindert werden können. Wenn man nicht alle renovierungsbedürftigen Spitäler in Wien sanieren und das MSZ Nord nicht bauen, sondern die Strukturen des AKH sinnvoll nutzen würde.

Das MSZ Nord ist aber keine Parallelstruktur: Die Stadt Wien bekennt sich zu fachspezifischen Zentren.

Das stimmt, das ist gut und da zolle ich den Gesundheitsorganisatoren in Wien Respekt. Und es wurde auch ein Vertrag abgeschlossen, der regelt, wofür die Gemeindespitäler zuständig sind und wofür das Universitätsspital AKH. Dieser Zusammenarbeitungsvertrag ist der erste Versuch einer Strukturierung des Wiener Gesundheitswesens. Ich hege daher auch eine gewisse Hoffnung für die Zukunft.