Chronik/Welt

Trumps Grenzkrieg gegen Kinder

Im Niemandsland zwischen San Diego und Tijuana ist es für kalifornische Frühsommer-Verhältnisse ungewöhnlich kalt an diesem verhangenen Samstagmorgen. Erica Morales (*Name geändert) hat darum für ihre vier Kinder neben Spielsachen auch Flanell-Decken und Camping-Stühle mitgebracht. Niemand soll auf dem kalten Asphalt sitzen, wenn die 34-Jährige wie an jedem vierten Samstag im Monat zwischen 10 und 14 Uhr auf amerikanischem Territorium bis an die Lippen ganz nah an den braunrot verwitterten Grenzzaun rückt, um mit ihrer Mutter zu sprechen, die auf mexikanischer Seite wartet.

Das von Wachturm, Kameras, Hightech-Zäunen und argwöhnisch patrouillierenden Beamten des Grenzschutzes gesicherte Areal muss man sich vielleicht wie eine verschärfte Open-Air-Version des „Tränenpalasts“ an der Berliner Friedrichstraße vorstellen, in dem sich DDR- und BRD-Bürger staatlich observiert Adieu sagen durften. 

Nur, dass es in der dieser Transitzone keinen echten Körperkontakt geben kann. Allenfalls die Kuppe des kleinen Fingers passt noch durch die nachträglich angeschweißten Gittermaschen. Trotzdem kommen jedes Wochenende Dutzende, manchmal Hunderte Menschen in den direkt am rauschenden Pazifik liegenden „Freundschaftspark“.

Nur hier können in den USA lebende Mexikaner mit Sicherheitsabstand ihre Angehörigen treffen, die entweder ausgewiesen wurden oder nicht in die „Estados Unidos“ einreisen dürfen. „Nur hier können sie leise und beständig zeigen, das Familienbande stärker sind als rostiger Stahl“, sagt Maria Teresa Fernandez. Die 65-Jährige, einst selbst aus Mexiko eingewandert, fotografiert seit 11 Jahren fast jedes Wochenende die anrührenden Begegnungen, bei denen „Tränen der Trauer und der Freude fließen“. 

Bricht das Herz

Was seit einigen Wochen auf Anordnung von Präsident Donald Trump an andereren Stellen der rund 3150 Kilometer langen Südgrenze der USA geschieht, bricht Fernandez jedoch nach eigenen Worten „wirklich das Herz“. 

Weil trotz verschärfter Migrationspolitik die Zahl der beim illegalen Grenzübertritt erwischten Menschen monatlich konstant über 50 000 liegt, hat die Regierung in Washington die „Null Toleranz“-Strategie ausgerufen. 

In Kurzform: Alle, die an der Grenze ohne Einreisebewilligung auftauchen und nicht freiwillig wieder umkehren, werden anders als früher wie Straffällige behandelt. Ausnahmslos. 

Also auch die Kinder von Müttern und Vätern, die aus Verzweiflung über Gang-Kriminalität, staatlichen Zerfall und Perspektivlosigkeit in Ländern wie El Salvador, Guatemala und Honduras über die Zwischenstation Mexiko in den USA nach einer neuen Lebensperspektive suchen. 

Allein zwischen Mitte April und Ende Mai wurden nach Angaben des Heimatschutzministeriums 2000 Minderjährige von ihren Erziehungsberechtigten getrennt, manche nicht mal drei Jahre alt. Von Oktober 2017 an gerechnet sind es sogar weit über 4000. 

Dabei ereigneten sich Szenen, die den Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Daniel DiNardo, der Regierung „unmoralisches“ Verhalten vorwerfen ließen. Und selbst aus der Trump sonst penetrant die Stange haltenden Ecke der fundamentalistischen Evangelikalen kam lautes Murren. Die Gründe sind  erschreckend.

Sohn und Tochter weggenommen

Vor wenigen Wochen wurde Marco Antonio Muñoz mit Frau und Kind (3) beim Grenzübertritt in Texas festgesetzt. Als man ihm den Sohn wegnahm, verlor der 39-jähriger Honduraner die Nerven und wurde zur Abkühlung in ein Gefängnis gebracht. Tags drauf erhängte er sich in seiner Zelle. In einem anderen Fall, den die Behörden bestreiten, soll einer jungen Mutter ebenfalls aus Honduras bei der Festnahme noch während des Stillens die Tochter weggenommen worden sein, wie die Anwältin Natalia Cornelio beteuert. Andere Flüchtlingsfrauen mit Anhang beschreiben, wie sie vor der Inhaftierung an der Grenze vertröstet wurden, dass ihre Kinder „nur schnell zum Duschen müssen“. Kurz darauf waren sie verschwunden und tauchten erst Tage später teilweise Hunderte Kilometer weit entfernt in Auffanglagern zwischen Illinois und Oregon wieder auf. Hauptsache weit weg von Vater und/oder Mutter. Zeitpunkt der Wiederzusammenführung? Unbekannt. „Skandalös“, „inhuman“, wetterten viele Zeitungskommentatoren.

Alles streng nach dem Gesetz, kontert Justizminister Jeff Sessions. Er ist gemeinsam mit dem allgegenwärtigen Präsidentenberater Stephen Miller der Architekt dessen, was Demokraten sowieso aber auch etliche prominente Republikaner wie der frühere Präsidentschaftskandidat John Kasich oder der Sprecher des Repräsentantenhaus, Paul Ryan, wahlweise „Tragödie“, „Schande“, „ganz falsch“ oder „zutiefst unamerikanisch“ nennen. 

Dass sich Sessions bei seinem Tun auch noch  auf den Römerbrief des Apostels Paulus in der Bibel beruft, wonach man den Gesetzen der Obrigkeit Folge zu leisten habe, ist für Pedro Rios der Höhepunkt des „himmelschreienden Unrechts“.

Der 45-Jährige arbeitet in San Diego für das „American Friends Service Committee“ (AFSC), eine vor 100 Jahren von den Quäkern gegründete Hilfsorganisation. Was Trump und Sessions treiben, sagte er dieser Zeitung beim Gespräch in seinem kleinen Büro, sei eine Mischung aus „Geiselnahme“ und „Abschreckung“. 

25 Milliarden Dollar für den Bau der Grenzmauer

Mit seiner Linie wolle Trump die Demokraten wohl dazu zwingen, unter anderem die von ihm geforderten 25 Milliarden Dollar für den Bau der Grenzmauer zu bewilligen, mit der Trump seit drei Jahren hausieren geht. So soll dem Präsidenten, der die Bekämpfung illegaler Einwanderung zu seinem Leib- und Magenthema gemacht hat, bei den Zwischenwahlen im Kongress im November ein Gesichtsverlust erspart werden. 

Um Nachahmer zu entmutigen, die zu Tausenden im bitterarmen Hinterhof von Amerika auf gepackten Koffern säßen, zögere Trump dabei auch nicht, das „Wohlergehen" unschuldiger Kinder zu gefährden und zu "lügen". 

Denn anders als Trump behauptet, gibt es kein von den Demokraten beschlossenes Gesetz, das im vorliegenden Fall die Trennung von Eltern und Kindern vorschreibt. Sondern laut Juristen der Bürgerrechts-Organisation ACLU nur die „zweifelhafte Rechtsauslegung“ des Justizministers, der selbst Menschen zu Kriminellen mache, die mit ihren Kindern an der Grenze ordnungsgemäß Asyl beantragen. 

Jeff Sessions will das nicht. Darum hat er bislang gängige Gründe für Asylgewährung - häusliche Gewalt oder die Verfolgung durch berüchtigte Latino-Banden wie MS-13 - einfach streichen lassen. 

Die Kritik des Menschenrechtskommissariats der Vereinten Nationen, das den USA „rechtswidriges“ Verhalten unterstellt, verbittet Sessions sich. Obwohl bereits mehrere Klagen in der Luft liegen. Obwohl Leitmedien wie die New York Times ihre Leser in einem seltenen Appell zum Widerstand gegen die „Politik der Einschüchterung“ aufrufen. Obwoh die Vorsitzende der Akademie der Kinderärzte, Colleen Kraft, vor „psychologischen Langzeitschäden“ warnt, wenn Kinder abrupt von ihren Müttern getrennt und wochenlang in ungewohnter Umgebung untergebracht werden. Der „toxische Stress“, sagt die Ärztin, kann das Urvertrauen der Kleinen irreparabel zerstören.

Auffangstation für junge Illegale

Um der fast flächendeckend vernichtenden Kritik zu entrinnen, hat die für die Unterbringung dieser Kinder zuständige Gesundheitsbehörde HHS eine PR-Offensive gestartet. Erst wurden handverlesene Journalisten großer Medien ins texanische Brownsville gelotst. Dort ist ein provisorisch umgebauter Walmart-Supermarkt mit 1500 Minderjährigen unter dem Etikett „Casa Padre“ zur derzeit landesweit größte Auffangstation für junge Illegale geworden. 

Weil danach in einigen Berichten von „Kasernierung“ und „Käfig-ähnlicher Atmosphäre“ die Rede war, versuchte es die Bundesbehörde in El Cajon bei San Diego am vergangenen Freitag gezielt eine Nummer kleiner. Bei der 30-minütigen Visite durften die Medienvertreter, darunter ein bekennender Trump-Fan des Propaganda-Portals Breitbart, den jungen Bewohnern keine einzige Frage stellen. Die Leitung des Hauses hatte als Ziel vorgegeben: „Wir wollen dokumentieren, wie wunderbar hier die Betreuung ist.“ 

In der hermetisch abgeriegelten Einrichtung am Broadway, die von der privaten Hilfsorganisation Southwest Key betrieben wird, halten sich derzeit 65 illegal eingewanderte Jungen auf, rund zehn Prozent davon wurden von ihren Eltern getrennt. „Sie leben in gut ausgestatteten 4-Bettzimmern, haben diverse Sportmöglichkeiten, werden regelmäßig unterrichtet, offenbar solide ernährt und wenn erforderlich ärztlich betreut“, sagte eine ausgewählte Lokaljournalistin dieser Zeitung, der der Zutritt vor Ort verwehrt wurde. "Wir sind voll."

El Cajon ist die Ausnahme, vermutet Pedro Rios, nicht die Regel. Die wenigsten der derzeit knapp 12 000 auf über 100 Übergangslager in 17 Bundesstaaten verteilten illegalen Minderjährigen, die bis zur Vermittlung an Verwandte oder Pflege-Eltern (wenn die leiblichen in Haft sind oder abgeschoben werden) im Schnitt 50 Tage in staatlichem Gewahrsam bleiben, dürften auf solche Luxus-Bedingungen bauen. 

Bestes Indiz: Weil durch die von Trump gedeckte Marschroute des Justizministeriums die Zahl der Inobhutnahmen kontinuierlich steigt, die Unterbringungskapazitäten aber immer knapper werden, hat die Gesundheitsbehörde HHS im texanischen Tornillo bei El Paso gerade ein Großzelt für 400 Personen in Betrieb genommen. Dort steigen die Temperaturen in den nächsten Wochen regelmäßig auf weit über 40 Grad.

Kein Entlastungseffekt

Während die Regierung in Washington von der Wirkung ihrer Strafmaßnahme überzeugt ist, die den bekannten MSNBC-TV-Moderator Joe Scarborough an „Nazi-Methoden“ erinnert, hält sich Kevin McAleenan auffällig zurück. Der Chef der Zoll- und Grenzpolizei (CBP) kann bis jetzt keinen Entlastungseffekt erkennen. 

Pedro Rios weiß aus vielen Gesprächen mit Betroffenen den Grund. „Die Menschen, die da über die Grenze kommen, haben kaum vorstellbares Leid hinter sich. Sie kommen de facto aus Kriegsgebieten. Bei der Abwägung, ob sie in der Heimat getötet oder an der Grenze zu Amerika von ihren Kindern getrennt werden, entscheiden sich viele für die Trennung.“ 

Stimmt das? Im Freundschaftpark am Grenzzaun bei Tijuana hat Erika Morales am frühen Samstagnachmittag ihr Gesprächspensum mit der Mutter voll ausgeschöpft. Ihre Wangen glühen rot, sie lächelt, die Kinder frieren. Bevor sie alles zusammenpackt und 130 Kilometer gen Norden fährt, dreht sie sich um und nickt. „Was Präsident Trump macht ist nicht gut. Er trennt, was zusammengehört.“