Warum wir - nicht erst seit Corona - so gerne spielen
Die Entscheidung, die die Jury des renommierten Spielepreises „Spiel des Jahres“ traf, war eine nahezu prophetische. Im Jahr 2018 zeichnete sie Pandemic Legacy mit einem Sonderpreis aus. Worum es in der Brettspiel-Serie geht? Alle Spieler treten gemeinsam gegen ein tödliches Virus an, um das Überleben der Menschheit zu sichern.
Parallelen zur aktuellen Weltenlage sind – freilich – rein zufällig.
Die Spielebranche sollte angesichts der Corona-Pandemie jedenfalls nicht in die Krise stürzen. Im Gegenteil. Der Absatz bei Gesellschaftsspielen ist im Vorjahr um bis zu 20 Prozent gewachsen, heißt es aus dem heimischen Spielwarenhandel. Verkäufe über Online-Riesen wie Amazon sind da noch gar nicht eingerechnet.
In Deutschland war – bei ähnlichen Steigerungsraten – sogar von Lieferengpässen die Rede. Bei Puzzles freuten sich die Hersteller letztendlich über ein Umsatzplus von 60 Prozent. Das kennt man sonst nur vom Klopapier.
Rückkehr der Klassiker
Die Lockdowns zwangen Familien und Freundesrunden zurück an die Küchen- und Wohnzimmertische – und es wurde wieder gespielt. Oder wie es Dieter Strehl formuliert: „Corona war wie eine große Werbekampagne für die Spielebranche.“
Strehl ist Chef des heimischen Spielegiganten Piatnik und führt das Familienunternehmen in fünfter Generation. Das einstige Kerngeschäft – Spielkarten – hat man ab den 1950er-Jahren stetig erweitert, zuerst um Spielesammlungen, dann um Produkte, die heute in kaum einem Haushalt fehlen. Klassiker wie Activity und DKT hat der Verlag im Portfolio.
Der KURIER widmet sich ab sofort regelmäßig den Trends in der Spielelandschaft - mit Spieletests, Tipps und einem Blick hinter die Kulissen einer spannenden Branche.
Land der Spieler
Nur ein Drittel aller Befragten im deutschsprachigen Raum geben in Umfragen an, nie Gesellschaftsspiele zu spielen. Unter jenen, die spielen, sind die Erwachsenen in der Mehrzahl: Der durchschnittliche Spieler ist laut Statistik 37 Jahre alt; zwei Drittel aller Spiele richten sich an Erwachsene
Die Gründe
Mit Freunden und Familie Zeit zu verbringen – das ist für 47 Prozent der Österreicher der wichtigste Grund dafür, mit anderen Erwachsenen zu spielen. Das ergab eine Umfrage des Statistik-Portal Statista im Jahr 2016. Auf dem zweiten Platz: „Unterhaltung und Spaß“ mit 40 Prozent. Den eigenen Ehrgeiz befriedigen wollen laut Umfrage nur 4 Prozent
„Das Pendel schlug in der Krise in allen Verlagen klar in Richtung der Klassiker aus“, sagt Strehl. Nicht, weil es an Auswahl fehlt – bis zu 3.000 Spiele werden jährlich im deutschsprachigen Raum veröffentlicht –, sondern weil Spielemessen ausfielen und Werbekampagnen ins Leere liefen. Spielekäufe seien oft Impulskäufe im Geschäft, so Strehl. Im Lockdown waren diese schwer möglich. Da besann man sich auf Klassiker. Schon vor Corona machten sie 50 Prozent des Marktes aus.
600 Millionen Euro Umsatz
Und dieser Markt wächst nicht erst dem dem Vorjahr, sondern seit rund zehn Jahren. In Deutschland, wo es exaktere Daten gibt, wurden 2019 rund 595 Millionen Euro an Spielen umgesetzt, 2012 waren es 400 Millionen Euro. Das hat das Statistik-Portal Statista erhoben. Innerhalb der Branche liegen Gesellschaftsspiele mit einem Marktanteil von 24 Prozent klar vor Outdoor-Spielen, Bausätzen und Puppen.
Dass das so bleibt, daran arbeiten Verlage und Autoren hart. Die Branche geht mit der Zeit und entwirft immer neue, immer ausgefeiltere, komplexere, schönere Spiele. Und das bei einer zugleich hohen Preissensibilität der Kunden. Der Durchschnittskunde ist nicht bereit, mehr als 35 Euro pro Brettspiel auszugeben, sagen Brancheninsider.
Die Auswahl – von Legespielen über Zug-, Aktions- und Denkspiele, die Geschicklichkeit, Taktik oder Glück erfordern – ist so bunt wie die Community: Gespielt wird quer durch alle Gesellschafts- und Altersschichten. Und das eigentlich seit jeher.
Die ältesten Belege für Brettspiele stammen aus Babylonien und Ägypten, wo man sie als Grabbeigaben fand. Dass schon zuvor gespielt wurde – etwa mit in Sand gezeichneten Spielfeldern –, ist in der Forschung unumstritten.
Gesellschaftsspiele in ihrer heutigen Form sind eine Entwicklung der bürgerlichen Kultur seit 300 Jahren, sagt Kulturhistoriker Rainer Buland, der das Institut für Spielforschung am Salzburger Mozarteum leitet. „Gemeinsamer Spaß steht im Mittelpunkt, gerne angereichert durch die Möglichkeit zu lernen.“
Das Spiel ist politisch
Zugleich waren und sind Spiele politisch: Skat etwa erfreute sich, erfunden um 1820 in Thüringen, nicht zuletzt deshalb so großer Beliebtheit, weil der Bube – also der Bauer – die Stichkarte war, nicht der König. Und das zu einer Zeit, in der sich die europäischen Herrscher beim Wiener Kongress den Kontinent neu untereinander aufteilten.
Spiele seien – wie Bücher – ein „Kulturgut“, sagt der Spieleforscher Jens Junge. Er leitet an der SRH Hochschule Berlin das Institut für Ludologie, das das Phänomen des Spielens erforscht. Eine Art Zeitenwende sieht Junge im Jahr 1995. Da erschien Catan (noch unter dem Namen Die Siedler von Catan) im Kosmos-Verlag. Ein „richtungsweisendes Spiel“, sagt Junge. „Es hat die Welt der komplexeren Brettspiele eröffnet und zeigt, dass sich diese auch für Erwachsene eignen.“
Innovationen mit Bestand
Bis heute zählt die Marke Catan weltweit zu den meistverkauften Titeln. Es gibt Erweiterungen, Varianten, eine Junior-Edition, einen digitalen Ableger – und mehr. Spielziel: Auf der Insel Catan müssen die Spieler bauen, Rohstoffe sammeln, handeln.
Das Spiel wartete mit Innovationen auf, die bis heute prägen: „Es ist ein Aufbauspiel, das mehrere Elemente verbindet“, sagt Spieleredakteur Arnd Fischer, der bei Kosmos für die Marke Catan verantwortlich zeichnet. „Ich muss strategisch, taktisch denken, kann aber auch mit Glück siegen.“ Man spielt gegeneinander und zugleich – das ist neu! – miteinander: „Wenn ich strikt für mich spiele, gewinne ich nicht. Ich muss interagieren, handeln.“ Auch neu: Ein modulares Spielbrett sorgt für Variabilität.
Kosmos stieg mit Catan zu einem der führenden Verlage auf und ist heute das, was man auf Neudeutsch einen Trendsetter nennen würde. Unter Beweis gestellt hat man das zuletzt mit der Exit-Serie, mit der man das „Escape Room“-Erlebnis in die Wohnung der Spieler brachte.
Von gesellschaftlichen Entwicklungen getrieben, hat sich in jüngsten Jahren viel getan: Das „Jeder gegen Jeden“ ist kooperativen Konzepten gewichen, bei denen alle zusammen gegen das Spiel antreten. (Junge: „Teamfähigkeit findet sich heute als Anforderung in jedem Stelleninserat.“)
Auch Spiele, die explizit für Zwei konzipiert sind, sind ein Erfolg. „Klar, Zwei-Personen-Haushalte sind zur Normalität geworden“, sagt Piatnik-Chef Strehl. Das lästige Lernen von halb garen Zusatzregeln, wenn der Dritte am Tisch fehlt, ist da nicht mehr zeitgemäß.
Warum wir spielen
Eine wohltuende Konstante findet sich in den Gründen dafür, warum der Mensch spielt: „Es liegt in unserer Natur, dass wir die Welt spielerisch erkunden. Das ist ein Geschenk“, sagt Junge. Das Regelspiel helfe, soziale Kompetenz zu entwickeln. „Wer ist am Zug, wie nehme ich Rücksicht, welche Interessen hat der andere?“ Irgendwann „hinterfragen wir Regeln und merken, dass wir sie selbst mitgestalten können. Wichtig für eine Demokratie.“ Im Spiel, sagt Junge, „trainieren wir auch den Optimismus. Wir meistern künstliche Herausforderungen. Der Selbstwert steigt, wir ernten Lob.“
Spiele leisten aber noch mehr: „Sieben Rhetoriken des Spiels“ definierte Brian Sutton-Smith im Jahr 1997. Der mittlerweile verstorbene Neuseeländer gilt als großer Spieltheoretiker unserer Zeit. Im Spiel, postulierte er unter anderem, erleben wir Gemeinschaft, lernen aber auch, mit Machtsituationen umzugehen und sie mitunter auf den Kopf zu stellen. Junge: „Wer je mit einem Kind Memory gespielt und verloren hat, weiß, was gemeint ist.“
Und nicht zuletzt: Wer spielt, erfährt, dass nicht alles kontrollierbar ist – er tritt mit dem Schicksal in Konflikt. Oft sind es (Würfel-)Götter, Glück oder Zufälle, die die Zügel in der Hand halten.
Schon wieder etwas gelernt für die Pandemie.