Chronik/Österreich

Selbstverantwortung statt Regeln auf der Straße

Die Politesse legt die Radarpistole an, liest die Geschwindigkeit des Radlers ab und fragt: „Was glauben S’, wie schnell san S’ gfoahr’n?“ Darauf der Radler: „An Zwanz’ger?“ Sie wiederum: „Jo, an Zwanzger werden S’ zoin, do gült Schrittgeschwindigkeit für Radler.“ Diese Szene, sie spielte sich vergangene Woche in der neuen Fußgängerzone Mariahilfer Straße ab, ist Begegnungszone auf Österreichisch.

Dabei ist das Konzept des geteilten Raums, der gemeinschaftlichen Straßenbenutzung ein zutiefst humanistischer Zugang zur Welt. Einer der geistigen Väter von Shared Space ist Willem Foorthuis aus den Niederlanden – seine Botschaft: „Es geht nicht um Verkehrsplanung, sondern um Menschen, die sich die Straßen teilen anstatt sie aufzuteilen – nicht gegen- oder nebeneinander, sondern miteinander. Sich untereinander verständigen, selbst die Verantwortung übernehmen, anstatt sich auf Regeln zu berufen, das ist die Devise von ,Shared Space‘.“

Verfolgt man die Streitereien rund um die „Mahü“, stellt sich die Frage: Wird das noch was? Ein Blick über den Tellerrand zeigt, dass es gelungene Beispiele für Begegnungszonen und Kontaktplätze im Straßenverkehr gibt. Klaus Robatsch vom Kuratorium für Verkehrssicherheit stellt zwei von ihnen vor:

Shared-Space-Kreuzung Oxford Circus Unter Bürgermeister Boris Johnson bekamen die Londoner mehr Eigenverantwortung. Auf der Kreuzung der Geschäftsstraßen Oxford Street und Regent Street wurden die Absperrungen für Fußgänger entfernt. Die dürfen nun machen, was sie wollen. Erfolgreich seit 2011.

Begegnungszone St. Gallen Ist das eine Straße oder ein Wohnzimmer? Die Rede ist von der Begegnungszone in der Schreinerstraße im Bleicheli, ein kleinräumiges Wohn- und Gewerbequartier, das sich in den vergangenen Jahren zu einem Bankenzentrum mauserte. Der Asphalt ist knallrot, es gibt, ebenfalls rot gehaltene und geräumige, Sitzgelegenheiten. Die Schweizer arrangierten sich recht schnell mit den „zones de rencontre“, Begründung des Experten: „Die Anhaltebereitschaft vor Schutzwegen ist in der Schweiz größer als in Österreich.“ Macht Freude seit 2005.

Das Um und Auf für eine erfolgreiche Koexistenz auf der Straße ist die Kommunikation, der Augenkontakt der Verkehrsteilnehmer. So banal es klingt, in Österreich ist man davon noch weit entfernt, weiß Robatsch.

Im Mutterland des Shared Space, in Holland, ist das Miteinander seit Jahrzehnten gelebte Realität. „Es gibt auch bei uns rücksichtslose Radler“, sagt Inge Keppert. Die Biologin mit holländischen Wurzeln ist oft auf Besuch in Hilversum. Dann taucht sie ein in eine Kultur, die von Radlern dominiert wird. „Für Autofahrer ist der Verkehr eine echte Herausforderung, die Radler kommen von links, von rechts, und man hat das Gefühl, sie kommen auch von oben und von unten. Aber das ist normal für uns. Wir sind damit aufgewachsen, auf die anderen zu achten, und das ist nicht von heute auf morgen entstanden.“ Klaus Robatsch sieht das ähnlich: „Die richtigen Rahmenbedingungen sind das eine, aber es braucht Zeit, um sich daran zu gewöhnen.“

KURIER: Wie viel Eigenverantwortung ist den Menschen zumutbar?Werner Ortner: Viel. Grundsätzlich ist jede Verkehrsteilnahme eigenverantwortlich. Es gibt zwar Verbote und Gebote, letztendlich entscheide ich aber selbst, ob ich diese missachte oder beachte.

Was sind aus verkehrspsychologischer Sicht die Vorteile von Shared Space?

Shared Space führt uns zurück zu den Anfängen des Verkehrs. Er erhöht die Aufmerksamkeit und wir müssen wieder mit den anderen Verkehrsteilnehmern kommunizieren, um uns selbst zu „sichern“. Der Verkehr wird verlangsamt und Unfälle reduziert.

Wann funktioniert Shared Space?

Bei niedriger Geschwindigkeit und ohne zu viel Schwerverkehr. Die örtlichen Gegebenheiten müssen stimmen und es muss einen Nutzen für die Anwohner geben. Dann wird der Shared Space zu einem sozialen Raum.

Kann Shared Space auch in einem „Autoland“ wie Österreich oder gar den USA funktionieren?

Das Konzept kann überall funktionieren, erfordert aber ein Umdenken bei Bürgern und Politikern. Der Automobilbereich ist ein Wirtschaftsfaktor und heilige Kühe werden weder in den USA noch in Österreich geschlachtet. Politiker heften sich lieber den Bau einer neuen Autobahn ans Revers als eine Wohnstraße.

Geht’s den Fußgängern gut, geht’s allen gut, meint Dieter Schwab, Obmann des österreichischen Fußgänger-Vereins Walk-Space (www.walk-space.at). „Wo sich Passanten wohlfühlen, profitieren auch die Geschäftsleute, wie zum Beispiel in Malls oder Einkaufsstraßen.“ Voraussetzung: eine gelungene Gestaltung. „Schöne Pflastersteine und viele Pflanzen schaffen lebenswerte Plätze, an denen man sich gerne aufhält.“

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Aber nicht alle Orte eignen sich als Gemeinschaftsraum, erklärt Schwab. Besonders gut funktioniere das Konzept dort, wo es viel Infrastruktur, also Schulen, Bahnhöfe und Umsteigeplätze, gebe. Die Auswahl des Ortes sei ausschlaggebend für den Erfolg von Shared Space. Die Einführung der Begegnungszone in die StVO(Straßenverkehrsordnung)sieht Schwab als Schritt in die richtige Richtung, ganz zufrieden ist er aber nicht: „In anderen Ländern gibt es auch Begegnungszonen, allerdings ist dort im Zweifelsfall der Schwächere im Vorteil. In Österreich sind alle Verkehrsteilnehmer gleichberechtigt, was für Fußgänger ein Nachteil sein kann.“

Fußgänger schimpfen gerne über das Fahrverhalten von Rad- und Autolenkern, gibt es auch rücksichtslose Fußgänger? Schwab, selbstkritisch: „Wie sagt man so schön: Egal, ob zu Fuß oder hinterm Volant – die Wahnsinnigen sind gleichmäßig verteilt.“

Info: Am 17. und 18. Oktober findet in Linz die siebente Fachkonferenz für Fußgänger statt.

... in Holland Nebeneinanderfahren beim Radeln erlaubt ist? Auch das Sitzen am Gepäcksträger ist gestattet.

... der Siegeszug des Autos mit einem PR-Coup begann? Wegen der vielen Verkehrstoten stand die aufblühende Autoindustrie in den 1920er-Jahren in der Kritik. Fahrzeug-Industrie und Kfz-Handel gründeten daraufhin die Lobbygruppe Motordom, der es gelang, die Stimmung zu drehen. Ihr Slogan: „Nicht Autos töten Menschen. Menschen töten Menschen“. Die Schuldfrage wurde umgekehrt und auf unvorsichtige Eltern abgeschoben, die ihre Kinder auf den Straßen spielen ließen.

... es die Möglichkeit einer Begegnungszone seit 1. April dieses Jahres in der Straßenverkehrsordnung gibt (StVO)? Es gelten weiterhin die Vorrangregeln. Die maximal erlaubte Geschwindigkeit liegt bei 20 km/h. Verkehrszeichen werden nur am Anfang und am Ende der Zone eingesetzt, um über die Begrenzung zu informieren.

... sich die strengste Begegnungszone im holländischen Makkinga befindet? Jedes Straßenschild und die Ampeln wurden entfernt.

... die Regeln für Begegnungszonen Erfahrungswerte sind? Im deutschen Bohmte wurde eine Begegnungszone in einer Durchzugsstraße mit 12.000 Pkw und 1000 Lkw pro Tag eingeführt, die Höchstgeschwindigkeit wurde mit 50 km/h beibehalten. Die Folge laut Robatsch: „Die Unfallzahlen stiegen.“