Chronik/Österreich

Pflegende Tochter kämpft um ihre Existenz

Die bundesweite Reform der Mindestsicherung ist eines jener Projekte, welche die schwarz-blauen Regierungsverhandler unbedingt angehen wollen. Vorbild dafür sollen zum Teil die in einigen Bundesländern bereits verschärften Bestimmungen sein, die etwa eine Deckelung der Bezüge mit 1500 Euro pro Haushalt vorsehen. Eine simple Kopie der Landesgesetze könnte aber problematisch werden. Der KURIER hat sich umgesehen.

Ob etwa Niederösterreich tatsächlich als Vorlage dienen kann, hängt vor allem vom Verfassungsgerichtshof ab. Der prüft eine mögliche Aufhebung der nö. Regelung – zu viele Beschwerden waren beim Landesverwaltungsgericht eingegangen. Pikant dabei: Kommt das Höchstgericht zur Ansicht, das Gesetz sei verfassungswidrig, wird es möglicherweise noch vor der Landtagswahl im Jänner aufgehoben. Damit stünde die Verschärfung der Mindestsicherung wieder im Fokus aller Kritiker. Darüber hinaus gibt es in Niederösterreich in der praktischen Anwendung des Gesetzes nach wie vor Baustellen (siehe Zusatzberichte).

Erleichterungen für pflegende Angehörige

Im Gegenzug war Niederösterreich aber das erste Bundesland, das Erleichterungen für pflegende Angehörige geschaffen hat. Den Ausschlag dafür gaben KURIER-Berichte über Mütter in Nieder- und Oberösterreich. Ihnen war die Mindestsicherung gekürzt worden, weil sie ihre behinderten Kinder pflegen und das Pflegegeld als Einkommen angerechnet worden war. Während Niederösterreich das Gesetz geändert hat, gab es in Oberösterreich bis dato keine legistische Reaktion. Lediglich die betroffene Mutter bekommt – nach Vorlage diverser Belege, die ihre Pflegeausgaben dokumentieren – wieder mehr Mindestsicherung. Eine Gesetzesänderung ist in Oberösterreich derzeit nicht in Sicht. Landeshauptmann Thomas Stelzer hatte vor Wochen angekündigt, eine Erleichterung nach dem Vorbild Niederösterreichs prüfen zu wollen.

Massive Probleme gibt es aber auch in Bundesländern, die eine Verschärfung bisher abgelehnt haben. Das zeigt der dramatische Fall von Marie L., die derzeit um ihre Existenz kämpft.

Es war im April 2010, als ihre Mutter Eva nach Einblutungen in die Aortawand in Wien notoperiert werden musste. Für die lebenslustige Frau bedeutete das den Auftakt zu einem wahren Spitalsmarathon. Heute ist sie ein Intensivpflegefall. „Die Leidensgeschichte meiner Mutter ist unglaublich lang, es gab immer wieder Verlegungen in andere Krankenhäuser. Einmal hat sie am Weg von einer der zahlreichen Untersuchungen einen siebenminütigen Atemstillstand erlitten“, erzählt Marie L. im Gespräch mit dem KURIER. Ein hypoxischer Schaden war die Folge, Hirnzellen starben ab. Marie L. berichtet davon, dass sie in der Folge die entsprechende Pflegestufe 7 gerichtlich erkämpfen habe müssen.

Heute ist Eva L. ans Bett gefesselt, muss über eine Sonde ernährt werden. Zur umfassenden Betreuung von Eva L. sind – das hat auch ein Spital schriftlich festgehalten – rund um die Uhr zwei Personen notwendig. Diese Pflege leistet Marie L. derzeit gemeinsam mit Nachbarschaftshelfern und Freunden. „Die gleichzeitige Anwesenheit von zwei 24-Stunden-Pflegekräften ist außerhalb unserer finanziellen Möglichkeiten. Wir hatten anfangs mobile Pflegedienste. Diese kommen allerdings höchstens drei Mal am Tag. Keiner der Betreuer hatte Erfahrungen mit Sondennahrung.“

Wien repariert Gesetz

Bei der Sozialversicherung ist Marie L. als pflegende Angehörige geführt. Umso verwunderter war sie, als die zuständige MA40 von ihr einen Nachweis für den Einsatz ihrer Arbeitskraft verlangte. Ende Dezember 2016 dann der Schock: Marie L. wurde die Mindestsicherung gestrichen. Der Grund: „Ein großer Teil der 1688,90 Euro, die meine Mutter als Pflegegeld bekommt, wurde mir als Einkommen angerechnet.“ Von eingereichten Belegen über tatsächliche Ausgaben für Pflegebedarf sei nur ein Teil anerkannt worden. Für Marie L. eine dramatische Situation: „Ich konnte meine Miete nicht mehr zahlen, musste wegen einer Räumungsklage vor Gericht“, erzählt die 52-Jährige. Sie wandte sich an die Volksanwaltschaft und auch an das Büro der zuständigen Stadträtin Sandra Frauenberger (SPÖ). Bisher ohne Erfolg.

„Ja, derzeit wird in Wien das Pflegegeld als Einkommen angerechnet, allerdings mit zahlreichen Ausnahmen“, heißt es aus Frauenbergers Büro. Eine davon sieht vor, dass pflegenden Angehörigen, die mit den Betreuten an einer Adresse gemeldet sind, nichts von der Mindestsicherung abgezogen wird. Ausgaben für „pflegebezogene Leistungen“ sowie Taschengeld oder Pension der betreuten Person werden ebenfalls berücksichtigt.

Doch Wien setzt nun, wie es Niederösterreich schon getan hat, zur Reparatur des Gesetzes an. Kommenden Donnerstag wird dem Wiener Landtag ein Reformpapier zum Beschluss vorgelegt, das vorsieht, nahen Verwandten – also Eltern oder Kindern – von Betreuten das Pflegegeld nicht mehr als Einkommen anzurechnen.

Damit könnte Marie L. zwar aufatmen, allerdings stand sie trotzdem ein Jahr ohne Mindestsicherung da. „Wer ersetzt mir das?“ Auf rückwirkende Auszahlung der Mindestsicherung darf sie nicht hoffen. Die neue Wiener Regelung soll ab Jänner oder Februar in Kraft treten und für alle ab dann gestellten Anträge auf Mindestsicherung gelten.

„Ich möchte nach der Schule Wirtschaft studieren und einmal eine Firma hier eröffnen.“ Der 19-jährige Amin hat große Träume.
Aktuell hat der gebürtige Afghane aber mit legistischen Hürden zu kämpfen. Er kam im Juli 2015 als Flüchtling nach Österreich. Nach Monaten im Lager Traiskirchen nahm ihn eine Familie aus Baden bei sich auf. Mittlerweile besucht der junge Mann eine höhere Schule und hat auch Asyl in Österreich bekommen. Der Umstand, dass er bei Gasteltern wohnt, hat nun negative Auswirkungen auf seine Mindestsicherung: Statt 422,50 Euro bekommt er nur 305,03 Euro.

Obwohl in der vierköpfigen österreichischen Familie niemand sonst Mindestsicherung bezieht, wird sie von der Behörde doch als „Haushaltsgemeinschaft“ definiert und die Deckelung von 1500 Euro kommt für alle zur Anwendung. „Wenn man gemeinsam wohnt, gibt es Synergieeffekte, die in die Berechnung der zustehenden Mindestsicherung einfließen“, sagt Renate Kremser von der Sozialabteilung des Landes.

Zusätzlich spielt die 1500-Euro-Grenze pro Haushalt eine Rolle. Für Amin bedeutet das, dass er nun weniger Geld bekommt als zu seiner Zeit als Asylwerber: Die Grundversorgung, die mit Dezember ausläuft, war höher.

„Schikane“

Badens Vizebürgermeisterin Helga Krismer kann das nicht verstehen: „Wenn eine österreichische Familie einem Asylberechtigten ein Zuhause und die Möglichkeit der Ausbildung gibt, empfinde ich es als Schikane, Amin und seine Pflegefamilie aufgrund der absurden Deckelung der Mindestsicherung zu bestrafen.“ Amin spricht sehr gut Deutsch, er will in zwei Jahren die Matura ablegen. Seinen Enthusiasmus kann die gekürzte Mindestsicherung nicht trüben: „Ich habe hier meine Identität gefunden. Ich würde alles für dieses Land tun.“

Die Deckelung der nö. Mindestsicherung mit 1500 Euro pro Haushalt trifft mitunter auch Menschen, die unfreiwillig unter einem Dach leben. Zum Beispiel jene, die aufgrund einer Notsituation Krisenzentren aufsuchen.

Dazu zählt etwa das „Lilith Wohnzimmer“ der Frauenplattform Krems, bestehend aus einer Wohnung mit sechs Zimmern, einem Gemeinschaftsraum, einer Küche und zwei Bädern. Das Wohnprojekt bietet Frauen mit und ohne Kindern eine befristete, professionell begleitete Wohnmöglichkeit. Die Frauen, die hier wohnen, sind einander fremd. Trotzdem wertet die Behörde die Unterkunft als Haushaltsgemeinschaft, für die die Obergrenze von 1500 Euro gilt. Bewohnerinnen, die Anspruch auf Mindestsicherung haben, bekommen vom Sozialamt eine gedeckelte und damit viel niedrigere Summe.

Beihilfe

Beim Land NÖ argumentiert man, es gebe für jede der betroffenen Frauen, die Möglichkeit um eine entsprechende Beihilfe anzusuchen. Damit käme jede Betroffene auf den Betrag, der ihr ohne Deckelung zustehen würde. Seitens der Frauenplattform wird jedoch argumentiert, dass eine solche „Subventionslösung“ keine Dauerlösung sein könne. „Immerhin gibt es einen Rechtsanspruch auf Mindestsicherung, aber eben nicht auf die Subvention, die jederzeit widerrufen werden kann.“

Die Sozialabteilung des Landes verweist allerdings darauf, dass man mitten in Verhandlungen stehe, um die Beihilfe direkt über die Träger der diversen Krisenzentren abwickeln zu lassen. Das würde Einzelpersonen den Antrag bei der Behörde ersparen. Ergebnisse der Verhandlungen würden für Ende November erwartet.

Für die Landessprecherin der Grünen, Helga Krismer, ist die Situation unbefriedigend. „Pflegende Angehörige, Pflegefamilien, die sich um asylberechtigte Jugendliche kümmern, Frauen, die Sicherheit im Frauenhaus suchen“ – es gebe zu viele Beispiele, die die Schwächen des Mindestsicherungsgesetzes dokumentieren. „Das Gesetz muss weg.“