Mistelzweig: Warum die parasitäre Pflanze zum Küssen verleitet
Von Anya Antonius
Im Sommer sind sie kaum zu sehen. Geschützt durch das dichte Blattwerk der Bäume, kommen sie unbemerkt durch die warmen Monate. Doch sobald die Blätter fallen, kommen die runden Mistelkugeln in den Ästen zum Vorschein. Und rechtzeitig für ihren Einsatz als Weihnachtsdeko sind nun auch die weißlichen Beeren voll ausgereift. Was Weihnachtsfans freut, ist für den befallenen Baum eine schlechte Nachricht.
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Denn die immergrünen sogenannten Halbschmarotzer wurzeln tief in den Baum hinein und entziehen ihm Wasser und Nährstoffe. Ein Absterben des befallenen Astes oder sogar des ganzen Baumes kann die Folge sein – vor allem, wenn die Bäume bereits unter anhaltender Trockenheit leiden. Bei Obstbäumen drohen zudem Ernteausfälle.
Nicht mistelfest
Eigentlich gehört die weißbeerige Mistel (Viscum album), die in Europa heimisch ist und in der Weihnachtszeit zum Einsatz kommt, zur Familie der Sandelholzgewächse. Und im Gegensatz zu den Laubbäumen, auf denen sie wächst, ist die Mistel immergrün. Langsam zu einer Kugel wachsend, kann sie bis zu 70 Jahre alt werden und dabei einen Durchmesser von einem Meter erreichen.
Allzu wählerisch ist die parasitäre Pflanze bei der Auswahl ihrer Wirtspflanze nicht – sie fühlt sich unter anderem auf Apfel- und Kirschbäumen, Weiden, Ahorn und Birken, Linden oder Rosskastanien wohl. Die Unterart der Kiefern-Mistel bevorzugt – nun ja, der Name verrät es bereits. Wen Misteln dagegen gar nicht mögen, sind Walnussbäume, Platanen oder Magnolien.
Mistelfest
Wer sich also das regelmäßige Ausschneiden der Blätterkugeln in luftiger Höhe ersparen will, sollte auf sogenannte mistelfeste Gewächse setzen. Denn die Verbreitung der Mistel lässt sich kaum stoppen. Immerhin sind es Vögel, die sich von den Beeren ernähren, und die unverdaulichen Samen wieder ausscheiden – im Idealfall für die Mistel hoch oben in den Zweigen eines passenden Wirtsbaumes. Von diesem Vogelmist soll sich auch – so eine Erklärung – der Name der Pflanze ableiten.
Wie einst Miraculix
Wie aber konnte eine Pflanze von derart zweifelhaftem Ruf in die Elite der klassischen Weihnachtsrequisiten aufsteigen? Um diese Frage zu beantworten, muss man weit zurückgehen.
Denn schon Plinius der Ältere beschrieb im ersten Jahrhundert nach Christus ein Ritual der keltischen Druiden in Gallien, die bei Mondschein in weißen Gewändern auf Bäume kletterten und mit einer goldenen Sichel die Mistel aus dem Baum schnitten. Sie galt ihnen als Heilpflanze und wurde auch als Symbol für Fruchtbarkeit und ewige Leben verehrt.
Küssen wie Frigg
Macht man auf seiner Zeitreise einen zusätzlichen Abstecher ins Reich der nordischen Mythologie, stößt man auf die Legende von Baldur, dem Sohn von Odin und Frigg. Als seine Mutter alle Götter, Geschöpfe und Pflanzen und Elemente darauf einschwört, ihrem Sohn niemals etwas anzutun, vergisst sie dabei auf die Mistel – mit dramatischen Folgen. Denn am Ende ist es ein Mistelzweig, der Baldur tödlich verletzt.
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In einer Version läutet dieser Tod Ragnarök, die Götterdämmerung, ein. In einer anderen gelingt es, Baldur wieder ins Leben zurückzuholen. Vor lauter Freude küsst Frigg alle, die unter dem Mistelzweig stehen. Ob das nun der Ursprung des Brauches ist, sich unter dem Mistelzweig zu küssen, lässt sich nicht verifizieren. Es ist aber – Hollywood sei Dank – die Tradition, die man heutzutage am stärksten mit der Pflanze verbindet. Die Götter wollten es wohl so.