"Qualifizierung ist das Gebot der Stunde"
Von Julia Schrenk
KURIER: Laut einer Studie des GfK-Instituts empfinden 66 Prozent der Österreicher Zuwanderung als ihre größte Sorge. Im Vorjahr waren es nur 26. Überrascht Sie das?
Kenan Güngör: Mich verwundert das Ergebnis in keiner Weise. Ich glaube, dass wir gerade mit der Zuwanderung im letzten Jahr bei den Menschen eine tiefe Kerbe getroffen haben, nämlich die Kerbe eines existenziellen Kontrollverlustes.
Inwiefern?
Weil wir nicht mehr in der Lage waren, zu sagen: Wer kommt herein? Das ist, wie wenn Sie einen Garten haben und der Zaun wird überrannt. Dieses tiefe Gefühl des Kontrollverlustes und des Überwältigtseins löst bei Menschen ganz normale Reaktionen von Angst aus.
KURIER-Dossier: Wie die Flüchtlingskrise Österreich veränderte
Wurde diese Angst von der Politik verstärkt?
Menschen reagieren sozial auf ein Gefühl des Kontrollverlustes. Allein das Schwenken der Politik von "Wir wollen unsere Grenzen stabil halten" über "Wir müssen die Grenzen öffnen, weil wir den Menschen helfen müssen" bis zu "Wir müssen die Grenzen doch schließen", zeigt, dass Einstellungen in extremen Momenten ziemlich stark kippen können. In dem Moment, wo alle fast apathisch perplex dastanden – auch die Politik – war es die Zivilgesellschaft, die selbst organisiert rangegangen ist und gesagt hat: Man kann was tun. Das hat den Menschen wieder das Gefühl der Gestaltbarkeit gegeben, es hat dem Selbstbild einer Gesellschaft gutgetan. Man hat sich bestärkt, bis die Frage kam: Wann hört es auf? Wie viele kommen da noch?
Danach begann die Stimmung schlechter zu werden. Endgültig gekippt ist sie nach den Vorfällen zu Silvester in Köln.
Interessant ist, dass mit Köln auch ein anderer Moment hineingekommen ist. So schlimm und unangenehm dieser Vorfall war, hätte er nicht mit Flüchtlingen in Verbindung gestanden – wären es zum Beispiel deutsche Hooligans gewesen – wäre diese Sache vermutlich nach zwei Tagen gegessen gewesen. Der Grund, warum das weit über Deutschland und Österreich hinweg, bis nach Amerika ein Thema wurde, hat eher damit zu tun, wer es getan hat.
Inwiefern ist das wichtig?
Es gibt – gerade wenn man das Gefühl hat, jemand ist Gast und jemandem wurde geholfen – so etwas wie eine Dankbarkeits- und Demutserwartung. Wenn jene, denen geholfen wurde, diese Regel verletzen, ist der Aufschrei umso größer. Nach Köln ist die Stimmung ganz gekippt: Politisch, aber auch durch die Boulevardmedien: Es gab fast eine Sucht, bei jedem Vorkommnis zu fragen: Steckt da ein Flüchtling dahinter? Das führte zu einer Hetzstimmung, vor der wir heute noch stehen.
Waren wir nicht auch naiv, was die Weltanschauungen derer betrifft, die zu uns kommen?
Was wir lernen müssen ist, Menschen weder zu diabolisieren, noch sie zu verklären. Menschen sind in ihrer Vielschichtigkeit und ihren Widersprüchen da. Wir müssen auch erkennen, dass ein Großteil der Menschen, die aus dem arabischstämmigen Raum kommen um vieles religiöser, wertkonservativer sind. Die Frage, die wir uns stellen können, ist: Öffnen sich diese Menschen hier und hinterfragen sie sich oder schotten sie sich ab? Wir müssen uns lösen davon, dass das immer harmonisch läuft.
"Ein-Euro-Jobs ohne Qualifizierung könnten zu einer Falle werden“
Was kann man mit denen tun, die sich hier nicht integrieren, sondern abschotten?
Wir müssen uns von der Illusion lösen, dass wir das hundertprozentig steuern können. Wenn das so einfach wäre, hätten wir die Kriminalität schon längst bewältigt. Wir reden viel über Werte, übersehen aber, dass ein großer Teil, insbesondere einen ganz großer Teil der jungen Männer aus Afghanistan, kaum Bildungsqualifikationen haben.
Ich würde hier zur Vorsicht mahnen. Wir haben einen strapazierten Arbeitsmarkt. Wenn wir die Menschen schnell in diesen drängen, werden sie zwar kurzfristig arbeiten, aber in so prekären Jobs und ohne Qualifikation, dass sie immer die ersten sein werden, die diese Jobs verlieren und dann im Sozialsystem aufgefangen werden müssen. Ein-Euro-Jobs müssten mit einer Bildungs- und Qualifizierungsoffensive einhergehen. Das wäre das Gebot der Stunde. Wenn diese Menschen nur Aufräumarbeiten machen, stehen sie in zwei Jahren wieder vor dem Nichts.
Viele Flüchtlinge zieht es nach Wien. Was halten Sie von einer Wohnsitzpflicht?
Wien bewältigt die Herausforderung einer ganzen Nation. Ich halte es für hochgradig zynisch, dass andere Bundesländer anfangen, so etwas wie eine Vertreibung vorzunehmen, in dem sie die Mindestsicherung reduzieren. Wenn wir eine einheitliche Mindestsicherung hätten, wäre die Frage der Wohnsitzpflicht weniger relevant.
Zur Person: Kenan Güngör
Kenan Güngör (*1969 Türkei) kam mit sieben Jahren nach Köln, studierte Soziologie und bezeichnet sich als „deutschsprachiger Europäer mit kurdisch-türkischen Wurzeln“. Er ist Inhaber des Büros „think.difference“ für Gesellschaft, Organisation und Entwicklung in Wien und im Expertenrat der Bundesregierung.