Chronik/Österreich

Immer weniger Jugendliche in U-Haft

Die Schaffung von Alternativen zur U-Haft für Jugendliche war eine schwere Geburt. Mit Jahresbeginn wurde nun aber der Betrieb aufgenommen: Drei Einrichtungen in Wien und Niederösterreich stellen der Justiz in Summe 15 Betreuungsplätze für Teenager zur Verfügung, denen eine längere Unterbringung in U-Haft erspart werden soll. Auf Weisung eines Richters beziehen die Betroffenen ein Jugendzimmer anstatt einer Haft-Zelle (siehe Bericht unten).

So sieht es die Theorie vor. Und in diesem Stadium blieb das hochgelobte Projekt bisher stecken, denn die Plätze werden mangels geeigneter Kandidaten bis dato nicht genutzt. Es fehlen aber nicht nur die passenden Fälle, sondern generell jugendliche U-Häftlinge.

Deren Anzahl ist mit bundesweit 51 auf einem Tiefstand. Im Jugend-Departement der Justizanstalt Wien-Josefstadt waren es laut Auskunft der Vollzugsdirektion mit Stichtag 1. Februar nur 15 Insassen. Peter Prechtl, heute Chef der Vollzugsdirektion, hatte 2004 als Leiter der Josefstadt noch 120 jugendliche U-Häftlinge.

Anlassfall

Für die schrumpfenden Zahlen sorgen die heimischen Jugendrichter, die mittlerweile offenbar zwei Mal nachdenken, ob sie einen Jugendlichen in Haft stecken. Den Sensibilisierungsprozess in der Richterschaft setzte der Fall eines 14-Jährigen in Gang, der im Mai 2013 in einer Zelle in der Josefstadt von Mithäftlingen vergewaltigt worden ist. Nach Bekanntwerden der näheren Umstände gingen die U-Haft-Zahlen bei Jugendlichen drastisch zurück. Die damalige Justizministerin Beatrix Karl reagierte anfangs tollpatschig („Strafvollzug ist nicht das Paradies“), stellte aber mit der Einrichtung einer Taskforce genannten Expertengruppe die Weichen für eine Reform. Auch der aktuelle Justizminister Wolfgang Brandstetter betont gebetsmühlenartig: „Es ist wichtig, dass Jugendliche wenn möglich nicht mehr in U-Haft kommen.“

Die Sensibilisierung der Richter war nachhaltig. Die erfahrene Wiener Jugendrichterin Beate Matschnig erklärt: „Die Richter gehen nun anders an das Thema heran.“ Sie seien „mehr bemüht, Alternativen zu finden.“ Genau diese Suche wurde ihnen mit dem seit 1. November landesweit installierten Instrument der „Sozialnetzkonferenzen“ erleichtert. Dies führe zu „vielen Enthaftungen“, sagt Matschnig.

Alle unterschreiben

In solchen Konferenzen beraten Bewährungshelfer, Familienmitglieder, Pädagogen, Freunde und Bekannte sowie der Betroffene selbst an einem runden Tisch, wie es weitergehen soll. Alle Mitwirkenden unterschreiben eine Vereinbarung, in der Auflagen, Verpflichtungen und ein geregelter Alltag festgehalten werden. Das letzte Wort hat der Jugendrichter, der sich auf Basis des Vereinbarten für ein „gelinderes Mittel“ – also die Enthaftung – aussprechen kann. „Das funktioniert deshalb so gut, weil nicht irgendjemand eine Vorstellung hat, sondern es ist jene des Jugendlichen.“ Dies könne der Betroffene leichter umsetzen, betont Matschnig.

In den 90er-Jahren wäre die Idee noch als „utopisch“ abgetan worden, sagt Andreas Zembaty vom Bewährungshilfe-Verein Neustart. Der Verein hat das Konzept entwickelt und (inklusive Testphase) seit 1. August 2013 im Auftrag der Richter 87-mal zu einer Konferenz geladen. Zembaty sagt, die runden Tische liefern dem Richter oft den entscheidenden Puzzlestein, um ein vollständiges Bild vom Jugendlichen und seinem Umfeld zu haben. Früher sei eine Enthaftung oft daran gescheitert, dass der Jugendliche auf der Straße gestanden wäre. „Jetzt zeigen dem Richter viele Beteiligte, dass sie da sind“, sagt Zembaty.
Für jene, die über keine Bleibe verfügen, sind die bisher leer stehenden Plätze in Wohngruppen gedacht. Übrig blieben, so Zembatys Idealbild, nur mehr „Jugendliche, denen kapitale Delikte angelastet werden“.

Das soziale Netz hält allerdings nicht immer: Sieben Mal mussten Jugendliche zurück in die U-Haft-Zelle, weil sie die Weisungen verletzt haben. Darunter ist auch jener 14-Jährige aus St. Pölten, der nach Bombenplänen im Internet gesucht haben soll.

Für 15 Jugendliche gäbe es Plätze. Zu Besuch in einer Einrichtung der Diakonie „Mahlzeit“, erwidert ein Jugendlicher. Langsam füllen sich kurz vor Mittag die Bänke in der Küche der Flüchtlingseinrichtung südlich von Wien. Die Diakonie betreut hier 38 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, die auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warten. Sie sind alle ohne Eltern hier, haben Freunde und ihre Heimat hinter sich gelassen.

Schwerpunkte

Bald könnten hier jugendliche U-Häftlinge einziehen. Die Diakonie ist eine von drei Einrichtungen, die der Justiz für die alternative Unterbringung von jugendlichen U-Häftlingen in Summe 15 Plätze freihalten. Zugewiesen werden die Jugendlichen von Richtern, denen im Dezember die Einrichtungen vorgestellt wurden. Zusätzlich können die Richter Weisungen erteilen. Etwa, ob der Jugendliche eine Therapie benötigt. Geboten wird in den Wohngruppen nicht nur eine intensivere Betreuung. Sie zeichnen sich auch durch Schwerpunkte aus: Die Österreichische Jungarbeiterbewegung ist für jene gedacht, die einen Ausbildungsplatz brauchen. Der Verein Menschenleben bietet „Einzelbetreuungsplätze“. Und die Diakonie nimmt unbegleitete Jugendliche mit Fluchthintergrund auf.

Integration

Der Alltag hier ist durchstrukturiert. Alles hat seinen Platz. Und jeder. Die von der Justiz zugewiesenen Jugendlichen sollen „voll in den Alltag integriert werden“, erklärt Einrichtungsleiter Andreas Diendorfer. Sie ziehen mit den Jugendlichen zusammen. Kleine, feine Unterschiede wird es geben: eine noch engere Betreuung; psychologische Hilfe; Kontakt zu einem Rechtsanwalt.

Alle Inhalte anzeigen
Gemein ist den Einrichtungen, dass sie die Freiheit der Jugendlichen nicht einschränken. Beziehungsweise in keinem großen Ausmaß. Es gibt klare Regeln, eine Hausordnung, die festlegt, wann Nachtzeit, was verboten und wann die Hausarbeit zu erledigen ist.

Der Diakonie gehe es darum, „keinen Jugendlichen fallen zu lassen“, betont Christoph Riedl, Geschäftsführer des Diakonie-Flüchtlingsdienstes. Riedl ist es wichtig, klar zwischen dem Straf- und dem Asylverfahren zu unterscheiden. „Ob ein Jugendlicher möglicherweise mit dem Strafrecht in Konflikt geraten ist, hat mit der Frage, ob er Schutz braucht, nichts zu tun.“