Chronik/Österreich

Der Grenzgänger: Das Verschwinden von Franz Leiss

Es war kalt geworden. Über den Feldern lag der Nebel und in der Früh überzog schon der Raureif die Wiesen. Monika hatte lange gezögert aber schließlich entschieden, dass es Zeit war, nach Kleinhaugsdorf zu fahren, um das Haus winterfest zu machen. Als sie ankam, erstarrte sie. Die Tür des Haues stand offen – und das, obwohl das Grundstück gleich am Ortsbeginn zu diesem Zeitpunkt schon sieben Monate verlassen dalag. Denn der Besitzer des Hauses, Monikas Lebensgefährte Franz Leiss, war spurlos verschwunden.

Als Monika im Oktober 2009 zum Haus kam und die Tür offen vorfand, wusste sie, dass jemand eingebrochen sein musste. Die Polizei stellte fest, dass der Tresor, der in die Wand eingelassen war, aufgebrochen und ausgeräumt worden war. Nur einen Revolver hatten die Einbrecher darin zurückgelassen. Alle stellten sich zu diesem Zeitpunkt dieselbe Frage: Hatte der Einbruch etwas mit dem Verschwinden des 68-Jährigen Franz Leiss, sieben Monate zuvor, zu tun?

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Es war der 20. März 2009 als Monika ihren Lebensgefährten zum letzten Mal sah. Franz Leiss war Gebrauchtwagenhändler. „Ein gstandenes Mannsbild, lustig, lebensfroh aber auch ein Choleriker“, sagen seine Freunde. Er hatte das Grundstück in Kleinhaugsdorf erst vor einiger Zeit erworben und wollte die Lagerhalle, die sich ebenfalls darauf befand, renovieren. Gemeinsam mit Monika und dem tschechischen Leiharbeiter Rudy hatten sie tagsüber gearbeitet. Danach fuhr Monika zu sich nach Hause. Am Abend wollte sie Franz Leiss eigentlich noch einmal sehen. Doch dazu kam es nicht.

Um halb acht rief Monika bei Franz Leiss an. Er erklärte ihr, er fühle sich nicht gut und könne sie deshalb an diesem Tag nicht mehr treffen. Im Hintergrund hörte Monika mehrere Männerstimmen. „Tief und dunkel und in irgendeiner anderen Sprache, welche weiß ich nicht“, sagt sie. Bei einem weiteren Anruf kurz darauf erklärte ihr Franz Leiss, er sei müde und sein Handy defekt. Danach war er nicht mehr erreichbar. An dem Abend nicht, am nächsten Tag nicht und auch nicht in den Wochen danach.

Monika ließ viel Zeit vergehen, bis sie zur Polizei ging. Sie kannte Franz Leiss schon sieben Jahre und sie wusste, dass sie ihn nicht einengen durfte. Er brauchte seine Freiheiten. Manchmal meldete er sich tagelang nicht bei ihr und war auch nicht erreichbar. Dass er in dieser Zeit anderer Frauen traf, war Monika klar. Sie hatte es akzeptiert und damit zu leben gelernt. „Hätte ich es ihm verboten, wäre er nicht bei mir geblieben“, sagt sie.

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Irgendwann wurde sie nervös. Fast zwei Wochen ohne ein Lebenszeichen waren sogar für den freiheitsliebenden, unnahbaren Franz Leiss untypisch. Sie fuhr zu seinem Haus und fand dort alles so vor, wie an dem Tag, an dem sie ihn zuletzt gesehen hatte. Teller und Gläser – alles stand noch auf dem Tisch. Auch der Reisepass und die dritten Zähne waren im Haus. Franz Leiss, sein blaues VW-Cabrio und seine beiden Hunde – ein Rottweiler und ein kleinerer Mischling – waren verschwunden.

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Die Polizei begann mit den Ermittlungen. Auch die Freunde des Gebrauchtwagenhändlers zogen los, um ihn zu suchen. Sie fürchteten, er könnte vielleicht in eine Sickergrube gefallen sein. Doch niemand fand auch nur die kleinste Spur. Einzig, dass Franz Leiss in der Zeit vor seinem Verschwinden in mehreren Tranchen einen sechsstelligen Betrag von seinem Konto behoben hatte, konnten die Ermittler feststellen

Woher hatte er so viel Geld und wofür brauchte er es?

Für ersteres gab es eine einfache Erklärung: Leiss hatte zuvor ein Grundstück in Spillern, Nähe Korneuburg, besessen und dieses verkauft. Zweiteres hingegen war schwieriger zu beantworten, denn wofür braucht man einen sechsstelligen Barbetrag? Zwar gab Leiss’ Lebensgefährtin Monika an, er habe immer größere Mengen Bargeld mitgehabt, um gleich zuschlagen zu können, wenn sich ihm ein gutes Geschäft mit Autos bot. Für einen so hohen Betrag fehlte aber auch ihr die Erklärung.

Die Wochen vergingen. Dann, zwei Monate, nachdem Franz Leiss das letzte Mal gesehen worden war, passierte etwas Seltsames. Ganz in der Nähe seines Wohnhauses tauchten plötzlich seine beiden zuvor verschwundenen Hunde wieder auf. Das Ungewöhnliche: Sie waren wohl genährt und gut gepflegt. Die Ermittler schlussfolgerten, die Hunde mussten bei jemandem gewesen sein, der sich um sie gekümmert hatte, vielleicht sogar bei jemandem, der wusste, was mit ihrem Besitzer passiert war. Wahrscheinlich kannten sie diese Person bereits zuvor - würde ein Rottweiler sonst mit einem Fremden mitgehen? Kurt Linzer, der Chef der Cold-Case-Abteilung im Bundeskriminalamt, stand vor einem Rätsel.

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Die Zeit verging. Es wurde Weihnachten und noch immer gab es keinen Hinweis darauf, was passiert sein konnte. Das blaue Cabrio mit dem behördlichen Kennzeichen HL 61 JI war nirgendwo gesichtet worden. Die Hunde waren zwar wieder da, man wusste aber immer noch nicht, wo sie gewesen waren und auch der Einbruch in Franz Leiss' Haus war immer noch ungeklärt.

Allerdings konnten die Beamten in der Zwischenzeit ein anderes Rätsel lösen. Kurz nachdem Franz Leiss verschwunden war, war nämlich auch sein tschechischer Leiharbeiter Rudy mit einem Mal nicht mehr auffindbar und auch nicht mehr erreichbar gewesen. Wusste er etwas oder hatte er vielleicht sogar etwas mit dem Verschwinden zu tun? Heute kann Chefermittler Kurt Linzer das verneinen. „Rudy ist in die Gegend nördlich von Prag gezogen“, erzählt er. Er sei wohl wegen seiner diversen kleinkriminellen Aktivitäten abgehaut, als die Polizei ihre Ermittlungen aufgenommen hatte.

Rudy war also gefunden, Franz Leiss immer noch wie vom Erdboden verschluckt.

Und dann passierte noch etwas: Im Juni 2010, mehr als ein Jahr nach Leiss’ Verschwinden wurde ein zweites Mal in das Haus in Kleinhaugsdorf eingebrochen. Später konnte jener Mann, der diesen zweiten Einbruch begangen hatte, festgenommen werden. Mit dem Verschwinden hatte er zwar nichts zu tun, doch immer noch war unklar, warum beim ersten Mal eingebrochen worden war.

Zunehmend gerieten Franz Leiss’ viele Frauenbekanntschaften in den Fokus der Ermittlungen. So berichtete etwa Manfred Stiedl, Leiss’ Freund und Versicherungsagent, von regelmäßigen nächtlichen Ausflügen in die Tschechische Republik - von Nachtlokalen, dubiosen Geschäften und Prostitution jenseits der Grenze.

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„Er liebte halt die Mädchen“, sagt Stiedl heute lächelnd, wenn er sich an  Leiss erinnert. Bis in die frühen Morgenstunden habe er sich in Rotlicht-Lokalen in der grenznahe Stadt Znaim herumgetrieben. Prostitution ist dort zwar nicht legal, dennoch stehen ab dem frühen Nachmittag leicht bekleidete Frauen bei jedem Wetter auf der Straße und warten, bis ein Auto stehen bleibt, in das sie einsteigen. Der Großteil des Geldes, das sie dabei verdienen, geht an ihre Hintermänner.

Doch nicht nur der Staßenstrich floriert an der österreichisch-tschechischen Grenze. Überall werden entlang der Straße Bordelle und Laufhäuser auf Plakaten beworben.

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Laut Manfred Stiedl hielt sich Leiss besonders oft im sogenannten Hotel Dukla auf und nahm von dort auch immer wieder Frauen mit zu sich nach Hause. Heute steht das Hotel zwar leer, vor zehn Jahren war es aber eine Drehscheibe für verschiedene Geschöpfe der Nacht: Prostituierte und deren Hintermänner, Drogendealer – und die russische Mafia.

„Dort ist es schlimmer zugegangen als in einem Puff“, sagt Stiedl. Er ist sich sicher, dass die Bekanntschaften aus dem Milieu Franz Leiss zum Verhängnis wurden. „Ich glaube auf jeden Fall, dass sein Verschwinden ein Verbrechen war“, sagt er. „Vielleicht hatte er die falschen Bekannten, mit denen er Geschäfte machte. Mit den dortigen Mafiosi ist nicht zu spaßen.“

Franz Leiss’ ehemalige Lebensgefährtin Monika hält noch eine andere Möglichkeit für denkbar. Etwa drei Monate vor seinem Verschwinden habe sie plötzlich große Veränderungen an ihrem Partner bemerkt: Er sei plötzlich anhänglicher geworden, wollte sie bei sich haben, auch über Nacht, und wollte sich mit ihr „zur Ruhe setzen“. „Ich war baff“, sagt sie. „Er, der große Franz Leiss, der da eine hat und dort, sagt mir auf einmal, ich soll die Einzige sein. Das hat mich stutzig gemacht.“

Rückblickend glaubt Monika, dass ihr Partner in dieser Zeit vor etwas Angst hatte. „Dass er sich gefürchtete hat, und deshalb freiwillig abgehaut ist, darüber hab’ ich oft nachgedacht“, sagt sie. Dazu würden auch die hohen Geldbehebungen passen. Vielleicht ist Franz Leiss später sogar zurückgekommen und in sein eigenes Haus eingebrochen, weil er den Inhalt des Tresors abholen wollte? Und noch eines: „Ein paar Tage vor seinem Verschwinden ist er einkaufen gefahren und kommt mit fünf roten Rosen zurück“, erzählt Monika. Nie zuvor habe ihr Franz Leiss Blumen geschenkt. „Heute denke ich, es war vielleicht ein Abschied - rote Rosen waren in meinem Leben immer ein Abschied.“

 

Hinweise bitte telefonisch an das Bundeskriminalamt unter der Nummer  01/24836/985025 oder per Mail an dunklespuren@kurier.at

Hier geht es zu unserem Dunkle Spuren Podcast, der sich dem Verschwinden des Franz Leiss in zwei Teilen ausführlich widmet.