Chronik/Niederösterreich

YouTuberin kämpft für mehr Akzeptanz der Gebärdensprache

Lily Marek winkt zur Begrüßung. Dann bringt sie Daumen und Zeigefinger ihrer linken Hand zusammen und zieht mit den Fingern zwei schnelle, kleine Kreise. „Wie geht es dir?“, fragt sie, ohne ihre Stimme zu verwenden.

Lily Marek kommuniziert in der Österreichischen Gebärdensprache, sie ist gehörlos. Dabei könnte sich Marek auch in Lautsprache ausdrücken: Die 23-Jährige ist nicht von Geburt an gehörlos, sondern hat erst als Jugendliche ihr Hörvermögen verloren.

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Der korrekte Begriff für den Verlust des Gehörs nach dem Erlernen der Lautsprache lautet spätertaubt. Das erklärt die 23-jährige Wiener Neustädterin unter anderem auf ihrem YouTube-Kanal „Lilys Deaf Life“. Dort macht sie sich auch für den Unterricht von Gebärden an Österreichs Schulen stark.

Plötzlich alles anders

Rund 10.000 Menschen sind in Österreich von Gehörlosigkeit betroffen. Viele davon sind spätertaubt, meist als Folge des natürlichen Alterungsprozesses. Anderen erging es wie Marek: Dem Österreichischen Gehörlosenbund, kurz ÖGLB, zufolge kann eine späte Ertaubung zurückgeführt werden auf einen Tumor oder ein Trauma, eine infektiöse Krankheit, medikamentöse Nebenwirkungen oder genetische Ursachen.

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Letzteres dürfte bei Marek der Fall sein: „Die Zwillingsschwestern der Großmutter meines Vaters sind auch ertaubt.“ Marek hat ebenfalls eine Zwillingsschwester, diese weist auch eine leichte Hörminderung auf. „Ganz genau weiß man das aber nicht. Das ist mir aber eigentlich auch nicht wichtig, da es an der Tatsache ja nichts ändert“, meint die junge Frau selbstbewusst.

Anfangs ignorierte Marek ihr schwindendes Hörvermögen. „Ich habe mir eingeredet, ich würde zu viel tagträumen und einfach nicht aufzupassen“, erinnert sich die 23-Jährige. Dann ging sie zum Ohrenarzt, probierte mehrere Hörgeräte aus – und fühlte sich unwohl.

Eine Sprache in Bildern

Also begann sie, sich mit der Österreichischen Gebärdensprache auseinanderzusetzen: „Ich war fasziniert von der Schönheit der Gebärdensprache. Die Sprache ist sehr visuell, man erschafft Bilder, die in einem 3D-Raum aufgebaut sind. Man kann sich das vorstellen, als wäre man in einem Film mit verschiedenen Kameraeinstellungen.“

Heute kommuniziert die junge Frau ausschließlich in Gebärden. Auch ihre Familie lernte, sich ohne Stimme auszudrücken. Marek schloss die Schule ab und arbeitet heute als Gebärdensprachpädagogin an der Uni Wien und im Sprachenzentrum Wien. Sie träumt davon, Sozialpädagogik zu studieren. In ihrer Freizeit übt sie das Trickreiten und macht akrobatische Kunststücke am Pferd.

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Tag der Muttersprache

Einen ähnlich erfolgreichen Lebensweg können nicht alle gehörlosen jungen Menschen in Österreich aufweisen: Gebärdensprache wird im österreichischen Schulwesen nicht unterrichtet. Daher werden die meisten gehörlosen Kinder in Sonderschulen geschickt, obwohl sie keine geistige Beeinträchtigung aufweisen. Die Zugehörigkeit zur Gesellschaft sowie individuelle Ausbildungs- und Berufswünsche werden dadurch erschwert.

"Es ist eine Diskriminierung, dass die Gebärdensprache des eigenen Landes nicht an Schulen angeboten wird, obwohl sie für viele Menschen die Muttersprache ist. Immerhin werden ja auch Sprachen wie Französisch, Latein, Spanisch, Ungarisch und viele mehr unterrichtet. Man kann immer auf eine gehörlose Person treffen, ertauben oder Gebärden nutzen, zum Beispiel in lauter Umgebung, Unterwasser, wenn man durch Glasscheiben getrennt ist. Es fördert das räumlichen Denken. Ich kenne nur Vorteile, warum man die Gebärdensprache können sollte“, fordert Marek.

Spätertaubung bezeichnet den Verlust des Hörvermögens nach dem Erwerb der Sprache. Spätertaubte haben daher eine gewisse Kenntnis von Grammatik sowie einen umfangreichen Wortschatz. Ein später Hörverlust tritt am häufigsten altersbedingt auf und verläuft meist schleichend.

Der Österreichische Gehörlosenbund (ÖGLB) ist die offizielle Interessensvertretung der österreichischen Gehörlosengemeinschaft und Nutzer der  Gebärdensprache. Ihm zufolge sind in Österreich  zwischen 8.000 und 10.000 Menschen gehörlos. Insgesamt sind 500.000 Menschen in Österreich hörbeeinträchtigt.

Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) ist seit 2005 als eigenständige Sprache anerkannt. Zwischen 10.000 und 12.000 Menschen in Österreich beherrschen die Sprache

Der ÖGLB kämpft seit vielen Jahren für die Anerkennung der Österreichischen Gebärdensprache als Unterrichtssprache. Zwar ist sie seit 2005 in der Verfassung verankert, allerdings fehlen entsprechende Erlässe, in welchen Bereichen und in welcher Weise diese Anerkennung umgesetzt wird.

„Die wenigsten hörenden Menschen wissen, dass die Muttersprache gehörloser Personen die Gebärdensprache ist. Wir lernen sie als Babys. Wir wachsen mit Gebärden und ausdrucksstarker Mimik als Kommunikationsmittel auf. Erst in der Schule lernen wir Deutsch – und hier beginnt das Problem: Wir lernen das Lesen und Schreiben einer Lautsprache: Für uns ist das eine Fremdsprache, die Inhalte in abstrakte Buchstaben zerlegt“, meint die Präsidentin des ÖGLB, Helene Jarmer.

Der kommende Sonntag ist übrigens internationaler Tag der Muttersprache.

Mehr Aufmerksamkeit dank Corona

Die Liste an Barrieren von gehörlosen Menschen im Alltag ist lang. Sie reichen von Lautsprecherdurchsagen in öffentlichen Verkehrsmitteln über Behördengänge bis zu Kinobesuchen. Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie bekommt man die österreichische Gebärdensprache jedoch auch im Fernsehen öfter zu sehen: Der ORF strahlt die Pressekonferenzen der Bundes- und Landesregierungen seitdem live gedolmetscht aus. Davor wurden nur die Sitzungen des Nationalrates live in die ÖGS übersetzt. Und das auch erst seit 2009.

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Marek hat inzwischen auf ihrem Kanal „Lilys Deaf Life“ sechs Videos hochgeladen und verzeichnet mehrere hundert Aufrufe pro Video. „Wir sind nicht anders, nur unsere Sprache ist verschieden“, beendet die selbstbewusste junge Frau das (schriftlich geführte) Interview.

Marek berührt mit der flachen Hand ihr Kinn und zieht die Hand in gerader Linie nach vorne weg. „Danke.“ Ebenfalls.