Ein Job und eine WG: Ein selbstbestimmtes Leben im Dorf
Rasch gleitet die Säge durch das Holz. Vor und zurück. Georg Feichtinger weiß, was er tut. Er hat auch jahrelange Erfahrung in der Holzwerkstatt. „Das ist sein Spezialgebiet“, sagt Sozialpädagogin Tanja Kandutsch.
Feichtinger ist einer der neuen Bewohner der Dorfgemeinschaft Wienerwaldsee, eine betreute Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderungen in Purkersdorf. Vor wenigen Tagen wurde sie eröffnet, elf der 30 Bewohner sind bereits eingezogen.
Nun, gegen 11 Uhr vormittags, sitzt Feichtinger mit vier weiteren Bewohnern sowie Betreuern und den Leiterinnen der neuen Werkstätten um einen Tisch und probiert das Werkzeug aus.
Denn schon bald sollen jene Bewohner, die das wollen, dort ihre neuen Tätigkeiten aufnehmen. Und die liegen in Purkersdorf im Bereich der Forstwirtschaft und der Naturpflege.
Das Projekt des Karl-Schubert-Bauvereins gilt österreichweit als Vorbild, was selbstbestimmtes Wohnen von Menschen mit hohem Betreuungsbedarf betrifft. Bereits in den 1990ern wurde die Dorfgemeinschaft Breitenfurt gegründet. Dort leben mittlerweile 76 Menschen, es gibt mehrere Werkstätten, ein Kulturzentrum und ein Café.
Keine Berührungsängste
Das Konzept: Inklusion. Die Bevölkerung soll mit den Bewohnern in Kontakt kommen. Jetzt, während der Corona-Pandemie, ist das natürlich eingeschränkt.
Wohngemeinschaft
1995 wurde vom Karl Schubert-Bauverein die Dorfgemeinschaft Breitenfurt errichtet. 2016 wurde dem Verein ein 6.000 großes Areal in Purkersdorf geschenkt, wo nun die DG Wienerwaldsee eröffnet wurde. Den Bau ermöglichten Spender und das Land NÖ, das 1,3 Mio. Euro bereitstellte
Aktionstag
Seit 1993 wird am 3. Dezember der internationale Tag der Menschen mit Behinderung begangen. In Österreich orten Behindertenverbände Aufholbedarf, etwa beim Zugang zu Bildung oder zum Arbeitsmarkt. Auch ein Problem: Unterschiedliche Sozialhilfen in den Ländern
In der neuen Dorfgemeinschaft Wienerwaldsee soll dieser Kontakt über das Thema Natur geschehen. Denn auf 10.000 wurde eine Streuobstwiese angelegt und es wird Naturschutzprojekte wie etwa gemeinsame Vogelzählungen geben.
Nächstes Jahr sollen die Bewohner zudem mit Freiwilligen die Obstbaumpflege in Privatgärten übernehmen. Jenes Obst, das der Verein dafür erhält, wird dann verarbeitet.
Noch ist das aber alles Zukunftsmusik. Gegen 12 Uhr geht es für Georg Feichtinger und die anderen zurück in die Wohngruppen zum Mittagessen. Insgesamt fünf Gruppen mit jeweils sechs Bewohnerinnen und Bewohnern gibt es, erzählt Wohnbereichsleiter Peter Lohmer.
Die zwei Wohnhäuser sind mit Naturmaterialien und Holzböden eingerichtet, die Zimmer mit 17 bis 20 Quadratmeter um 30 Prozent größer als vorgeschrieben.
Die ganze Gemeinschaft wird mit Solarenergie versorgt. Der Betreuungsschlüssel liegt bei drei zu eins.
Die elf neuen Bewohner kennen das Konzept bereits, denn sie siedelten aus Breitenfurt nach Purkersdorf. „Wir haben alle Bewohner befragt, auch jene die nicht verbal sind“, erklärt Lohmer. 12 wollten umziehen, mal was Neues ausprobieren.
Teilhabe am Arbeitsleben
„Das Besondere bei uns ist, dass Arbeit einen sehr hohen Stellenwert hat“, sagt Lohmer. Arbeit – nicht Beschäftigung. Deshalb werden die Produkte, die die Bewohner herstellen, auch von ihnen selbst verkauft. Der Erlös wird aufgeteilt. „Da geht es um den Anerkennungswert, dass das, was ich hergestellt habe, etwas wert ist.“
Jeder Bewohner, der in einer der Werkstätten arbeiten möchte, muss sich bewähren. Denn: Nicht jeder, der gerne Striezel isst, sei ein leidenschaftlicher Bäcker, wie es der Wohnbereichsleiter erklärt. Professionisten leiten die Menschen der Dorfgemeinschaften bei ihrer Tätigkeit an. In Purkersdorf etwa auch eine Forstwirtin.
Ab nächstem Jahr können die Bewohner zudem wählen, ob sie ganztags arbeiten oder nachmittags diverse Kurse absolvieren oder Sport machen wollen. Denn nicht alle schaffen einen ganzen Arbeitstag.
Gemeinsame Entscheidungen
Was die Dorfgemeinschaften noch ausmacht: „Nicht die Betreuer bestimmen, was zu tun ist, sondern es entsteht ein Dialog“, sagt Lohmer. Gemeinsam wird auch besprochen, wohin sich der Bewohner entwickeln will. „Das ist das besondere, dass wir auf den Beziehungsraum zwischen Bewohner und Betreuer achten“, sagt Vereinsvorsitzender Michael Mullen, der manche Bewohner der Dorfgemeinschaften seit Anbeginn kennt.
Die Mitarbeiter sind also auch Vermittler zwischen den Bewohnern und ihren Familien. Etwa, wenn sich Beziehungen zwischen den Bewohnern entwickeln. Sogar Pärchenwohnungen sind dafür vorgesehen. „Das Schlüsselwort ist Vertrauen“, sagt Mullan. Dass das Konzept funktioniert, zeigt die lange Warteliste. 150 Leute werden derzeit in Evidenz gehalten.
Auch Georg Feichtinger fühlt sich zu Hause. Er kann es nicht erwarten in die Natur zu kommen. Wie gut, dass am Nachmittag Laub für den Kompost gesammelt wird. Da lässt er sogar die Säge liegen.