Industrie 4.0: "Das Match USA - Europa ist noch völlig offen"
Menschenleere Fabriken oder Produktionen, bei denen Mensch und Roboter Schulter an Schulter arbeiten. Seit Herbst setzt sich in Österreich eine eigene Plattform intensiv mit dem Thema "Industrie 4.0" auseinander. Zu den Gründungsmitgliedern, etwa die Sozialpartner, stoßen laufend neue dazu (siehe unten) – 21 Unternehmen, Universitäten, Forschungs- und Bildungseinrichtungen sind es mittlerweile. Roland Sommer, Geschäftsführer der Plattform, spricht über die Auswirkungen auf Arbeitnehmer und die vermeintliche Vormachtstellung der USA.
KURIER: Arbeitnehmer und Arbeitgeber haben beim Thema Industrie 4.0 doch völlig konträre Interessen. Lähmt das nicht die Arbeit der Plattform?
Roland Sommer: Es gibt Ängste, weil die Digitalisierung alle Lebensbereiche betrifft – Firmen, Arbeitnehmer, Konsumenten. Diesen Trend gibt es, so oder so. Entweder ich schaue dabei nur zu, oder ich gestalte aktiv mit. Die Ziele der Mitglieder sind nicht weit auseinander. Auch die Gewerkschaft will, dass Österreichs Unternehmen auf dem Weltmarkt erfolgreich sind und hier hoch qualifizierte Arbeitsplätze schaffen.
Wie fließt die Arbeitnehmer-Perspektive denn konkret ein?
Ein Beispiel ist die Arbeitsgruppe "Mensch in der digitalen Fabrik", die sich unter anderem mit Arbeitsrecht und Sicherheit befasst. Künftig sind Maschinen nicht mehr eingezäunt, sondern arbeiten Seite an Seite mit Menschen. Die Arbeit wird auch neu organisiert: Hierarchien sind flacher, Entscheidungen werden schneller und verstärkt im Team direkt auf Ebene der Produktion getroffen.
Was will die Plattform in einem Jahr erreicht haben?
Es wird Strategiepapiere und viel Know-how geben. Mein Wunsch wäre, dass Unternehmen voneinander lernen. Viele Produktionsprozesse etwa bei Lebensmitteln, Chemie oder Pharma sind ähnlich. Bisher denken die Firmen oft nur innerhalb ihrer Branche, sozusagen in Silos. Dabei wildern neue Konkurrenten im Revier. Wer hatte Google als Autobauer auf dem Radar? Oder Amazon als Produzent von TV-Serien?
Die Plattform hat sieben Arbeitsgruppen. Was soll da Greifbares rauskommen?
Sicherlich Expertise, aber auch konkrete Ideen und Empfehlungen für die Politik. Es könnte sein, dass eine Lücke in der Forschungsförderung identifiziert wird. Oder Änderungen bei Gesetzen, Normen und Standards nötig wären. Ein Zusatznutzen ist die Vernetzung von Industrie und Forschung: Ich erwarte, dass die Unternehmen und Universitäten noch mehr gemeinsame Projekte entwickeln.
Es wird eher ein Einzelfall sein, dass Österreichs mittelständische Wirtschaft globale Standards setzt. Bei uns steht Information im Vordergrund. Die Kritik war, dass Deutschland zwar sehr geordnete Prozesse hat, die Amerikaner aber schneller waren. Die USA sind besonders auf der Datenseite stark; mit Google, Facebook, Amazon. Im deutschsprachigen Raum sind wir stark in der industriellen Produktion wie dem Maschinenbau.
Und, wer hat die Nase vorn?
Um die Führungsfunktion im Business-to-Business-Bereich wird noch gerungen. Wobei: In der deutschen und österreichischen Industrie hat sich gerade im Know-how von Datenanalysen enorm viel getan. Die Geschäftsmodelle etwa von Automobilzulieferfirmen wie Continental, Bosch oder Magna haben sich stark gewandelt.
Sind US-Konzerne nicht meilenweit vorn? Oder ist es gar nicht wichtig, wer die Daten besitzt?
Der Großteil der österreichischen Unternehmen macht Geschäfte mit anderen Unternehmen. Da ist das Match völlig offen. Google und Co. haben hier noch nicht Fuß gefasst, einige Europäer sehr wohl: etwa Siemens, Atos, Bernecker+Rainer, um nur einige zu nennen. In Summe werden in Europa Produktionsdaten bisher nur zu 34 Prozent genutzt.
Worauf kommt es dann an, um dieses Match zu gewinnen?
Die Tendenz geht weg vom Einzelprodukt zu Plattformen. Ein Beispiel aus der Landwirtschaft: Früher war der Traktor zentral, dort wurden alle Geräte angeschlossen. Jetzt ist er eingebettet in eine Steuerungs-Plattform, in der Daten zu Wetter, Saatgut, Bewässerung zusammenfließen. In den Niederlanden wird mit Drohnen experimentiert, um die Ernte zu optimieren. Die Frage ist: Wer erhält die Profite? Der Traktorhersteller? Meist wird ein einziges Unternehmen nicht das Gesamtsystem bespielen können. Es gewinnt also der, der die klügsten Kooperationen zustande bringt.
Viele Arbeiter haben Angst um ihren Job. Zurecht?
Man muss den Arbeitsmarkt breiter anschauen: Es wird weniger Mitarbeiter in der Produktion, aber neue vor- und nachgelagerte Jobs geben – in der Entwicklung oder bei Dienstleistungen.
Wie die Rechnung unterm Strich ausfällt, wissen wir aber nicht.
Mit Industrieproduktion allein wird es schwierig zu reüssieren. Services sind einer der Erfolgsfaktoren: Die Liechtensteiner Firma Hilti garantiert, dass sie auf der Baustelle binnen zwei Stunden Ersatzgerät bereitstellen kann. Diese Logistik schaffen nicht alle.
Die Bevölkerung verbindet Industrie 4.0 mit Jobsorgen.
Vierte industrielle Revolution klingt nach unglaublichen Umwälzungen in kurzer Zeit. Ehrlicherweise muss man sagen: Es ist kein Umsturz, sondern ein rascher, aber schrittweiser Prozess. Vor den Neuerungen muss man sich nicht fürchten. In den 1980ern kamen Computer auf – das hat Sekretärinnen auch nicht ersetzt, aber ihre Tätigkeiten verändert.
Denkt unser Schulsystem in zu engen Schubladen?
Aus- und Weiterbildung ist für uns ein Schwerpunkt – im Betrieb, in HTLs, auf Universitäten, aber auch für Menschen, die leider arbeitslos werden. Es wird Spezialisten ebenso brauchen wie Generalisten, die das Gesamtsystem verstehen. Und um Antriebsstränge zu entwickeln, muss ich nicht nur das Gesamtfahrzeug verstehen, sondern auch alle CO2-Gesetze weltweit.
Wie gut sind wir da?
Bei Innovationen im Unternehmen ist Österreich ganz stark. Mehr als 50 Prozent der „hidden champions“, also globalen Technologieführer in Nischen, sind aus dem deutschsprachigen Raum. Da gibt es unglaubliches Kreativpotenzial.
Bei Startups und im Auftreiben von Risikokapital ist Europa aber ganz schlecht.
Stimmt, bei Venture Capital sind Österreich und ganz Zentraleuropa abgeschlagen. Gut sind in Europa die Briten und Schweden. Noch wichtiger sind freilich Business Angels, weil sie Geld mit Erfahrung verknüpfen. Wenn Startups scheitern, dann selten an technischen, sondern an wirtschaftlichen Fehlern. Und in den USA konzentrieren sich die Gründungen in Wirklichkeit auch auf Kalifornien und Massachusetts (mit Silicon Valley und MIT, Anm.).
Viele Klein- und Mittelunternehmen wissen, sie müssen was tun, aber nicht was. Wie hilft ihnen da die Plattform?
Im Moment gibt es bei den KMU noch etwas Zurückhaltung. Wir wissen, dass jeder Großkonzern mit bis zu 15.000 KMU kooperiert. Somit geben sie an diese den Innovationsdruck weiter. Manche KMU haben schon erste Schritte gesetzt, ohne es als Industrie 4.0 zu bezeichnen.
Nach Wien-Aspern sollen die nächsten Pilotfabriken in Oberösterreich und Steiermark entstehen, richtig?
Das steht noch nicht fest. Es wird eine Ausschreibung zu weiteren Pilotfabriken geben. Im Moment läuft aber die Konsultation. Welche Themen ausgeschrieben werden ist noch offen.
Welche Rolle spielen diese Pilotfabriken?
Mehrere. Neben der Ausbildungsfunktion kann in Pilotfabriken ideal ausgetestet werden, ob Maschinen und Software unterschiedlicher Hersteller kompatibel sind. Das Dritte ist die Forschung: In Aspern forschen 20 Unternehmen sehr engagiert gemeinsam, die sonst als Konkurrenten auftreten.
Jedes Land in Europa schafft nationale Plattformen. Wie sinnvoll ist das?
Wir werden das Rad nicht neu erfinden, wenn uns die Deutschen etwas voraushaben. Wenn die Wertschöpfungsketten global sind, wäre es absurd, wenn Plattformen rein national blieben und kein internationaler Erfahrungsaustausch stattfände.
Bei uns spielen aber sogar die Bundesländer mit.
Es ist sinnvoll und notwendig, auf Stärken einer Region aufzubauen. Das AC Styria wurde vom reinen Automobilcluster um Schienen- und Flugzeugkompetenzen erweitert. Oberösterreich ist bei Maschinenbau, Mechatronik, auch Kunststoff Vorreiter. In Vorarlberg gibt es eine gute Basis für smarte Textilien, Wiener Neustadt kann an den Flugzeugbau (Diamond Aircraft) anknüpfen. So leben Traditionen weiter.
Plattform Industrie 4.0 in Österreich
Gegründet wurde die Plattform vom Infrastrukturministerium BMVIT, der Industriellenvereinigung, dem Fachverband Elektro- und Elektronikindustrie (FEEI), Fachverband Maschinen und Metallwaren (FMMI), der Arbeiterkammer und Produktionsgewerkschaft PRO-GE.
Laufend stoßen Firmen und Forschungseinrichtungen dazu. Sieben Arbeitsgruppen sollen Empfehlungen für die Politik ausarbeiten oder neue Gesetze, Normen und Standards anstoßen. Die Vernetzung von Industrie und Forschung ist ein Zusatznutzen. Geschäftsführer Sommer kam von Motorenentwickler AVL.
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Industrie 4.0 ist keine Zukunftsmusik. Es gibt Beispiele, wo die Zukunft greifbar wird, auch in Österreich.
Wartung ohne Flugmeilen Ein innovatives Projekt ist „Assist 4.0“ von Knapp Logistik gemeinsam mit dem Motorenentwickler AVL und Halbleiterhersteller Infineon. Bei Störfällen an AVL-Motorenprüfständen war es bisher oft nötig, Ingenieure etwa nach Brasilien zu schicken. Statt die Zeit im Flieger abzusitzen, können die Grazer Techniker ihre Kollegen quasi „fernsteuern“ – die nötigen Daten werden vom Softwaresystem auf Datenbrille, Tablet oder Smartwatch ausgespielt. Die drei Projektpartner setzen das System jeweils für ihre Anforderungen ein. Das Projekt kostet drei Millionen Euro und wird von der FFG mit 1,8 Millionen Euro gefördert. Die Technik war schon im Testeinsatz, im Juli 2016 wird das Projekt finalisiert.
Die Supermarktkette Tesco in Irland geht noch weiter: Erkennen die Kameras viele Autos auf dem Parkplatz, werden die Tiefkühl-Vitrinen vorsorglich tiefer temperiert. Schließlich werden deren Türen gleich häufiger geöffnet.
Automatische Fabrik Die deutsche Siemens-Vorzeigewerk Amberg produziert Steuerungen. Früher betrug die Fehlerquote 500 pro eine Million Stück, durch die Digitalisierung und Automatisierung sank der Wert auf 11,5. Die Mitarbeiterzahl blieb bei 1200 konstant, dafür stieg der Ausstoß um den Faktor acht. „Das Wichtigste für die Akzeptanz war: Es ist sichergestellt, dass die Mitarbeiter ihren Job durch Verbesserungsvorschläge nicht gefährden. Sie würden sich also nie selbst abschaffen“, sagt Sommer. Datenschutz sei kein Thema: Eine Betriebsvereinbarung hielt fest, dass nur Produktions-, keine personenbezogenen Daten zur Arbeitsproduktivität verarbeitet werden.
Bestellvorgang Auch KMU setzen Industrie 4.0 um, manche schon lange: Der Kärntner Prothesenhersteller Wild lagert Schrauben und Kleinteile auf Waagen. Fällt das Gewicht unter einen Wert, wird automatisch nachbestellt.
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