Macht googeln blöd?

Was wir früher mit dem Kopf gemacht haben, erledigen heute Computer. Der Hirnforscher Manfred Spitzer geißelt die "digitale Demenz".

Die Nummern von Freunden und Verwandten, die Termine mit Geschäftspartnern und die Wege zum Treff dazu, Fotos, eMails, Bücher, Musik – alles gespeichert in unserem digitalen Gedächtnis. Mitdenken, abwägen, kritisch hinterfragen – Fehlanzeige! Wir lassen zunehmend denken und werden digital dement, behauptet der Gehirnforscher Manfred Spitzer und legt aktuelle wissenschaftliche Studien und eigene Schlussfolgerungen vor. Titel des neuen, kontroversen Buches Digitale Demenz – Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Kostprobe gefällig: „Die Nutzung digitaler Medien in Kindergarten und Grundschule entspricht – aufgrund der in Kindesalter besonders großen Formbarkeit des Gehirns – tatsächlich dem Anfixen junger Menschen mit einer gefährlichen Suchtdroge.“

 

KURIER: In der Buch-Ankündigung liest man „Digitale Medien machen dick, dumm und aggressiv.“ Prof. Spitzer, Sie machen sich Sorgen. Warum?
Manfred Spitzer: Weil unsere Kinder auf dem Spiel stehen. Wir arbeiten alle mit digitalen Medien. Dagegen habe ich auch nichts einzuwenden. Die Frage ist, ob wir unseren Kindern mit Medien schon im Kindergarten einen Gefallen tun. Diese haben nämlich Risiken und Nebenwirkungen.

Welche?
Wenn wir geistige Arbeit an Maschinen abgeben – und digitale Medien sind nichts anderes als Denkmaschinen – findet die geistige Arbeit nicht mehr in unserem Hirn statt. Beispiel: Wer Auto fährt, benutzt nicht seine Muskeln zur Fortbewegung, sondern einen Motor. Wenn man nun mit Navi fährt, erledigt nicht unser Gehirn das Navigieren, sondern das kleine Kästchen. Beim einen schrumpfen die Muskeln, beim anderen schrumpft das Gehirn.

Damit sind wir bei einem Kernsatz Ihres Buches: Wir lagern unser Gedächtnis aus.
Richtig. Studien haben beispielsweise gezeigt, dass Googeln dafür sorgt, dass sich die Information weniger gut festsetzte, als wenn man sie aus anderen Quellen zieht. Man hat immer im Hinterkopf, dass man die Info selbst nicht abzuspeichern braucht – und tut es auch nicht. Unser Gedächtnis leidet. Erwachsene sagen: Naja, das nehme ich in Kauf. Wer sich das aber keinesfalls leisten kann, sind Kinder und Jugendliche. Denn diese müssen erst Wissen erwerben, damit sie überhaupt googeln können. Wenn man nichts weiß, nützt einem eine Suchmaschine auch nichts. Ich brauche Vorwissen, das ich als Filter verwenden kann, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Daher ist es ganz schlecht in der Schule und für die Schule zu googeln: Der Wissenserwerb auf diesem Weg ist erwiesener Maßen geringer.

Heißt das, eine dumme Generation wächst nach?
Das Risiko besteht. Studien zeigen, dass die Gefahr für diejenigen besonders hoch ist, von denen man glaubte, sie könnten von den digitalen Medien profitieren – die Unterschicht. Diese Hoffnung gab es schon beim Fernsehen – endlich höhere Bildung in die Welt zu transportieren. Heute wissen wir, dass das beim Fernsehen nicht geklappt hat, und die Untersuchungen, die es zu digitalen Medien gibt, zeichnen dasselbe Bild. Sie vergrößern den Unterschied zwischen Gebildeten und Ungebildeten und damit auch zwischen Arm und Reich. Sie haben damit ganz unsoziale Auswirkungen.

Sie sagen auch, dass Computer im Haus für schlechte Schulleistungen sorgen.
Das sagen auch die PISA-Daten, die an immerhin 250.000 15-jährigen Schülern gewonnen wurden. Lernen bedeutet, seinen Geist zu benutzen, und das hinterlässt Spuren im Gehirn. Wenn man geistige Arbeit auslagert – etwa statt mit der Hand zu schreiben am Computer rasch copy-and-paste macht – muss man sich gar nichts mehr denken. Alles passiert in der Maschine, nichts bleibt im Kopf hängen. In Alabama wurden 15.000 Computer an Schüler verteilt. Hoffnung: Ihre Bildung zu verbessern. Das Experiment wurde nach drei Jahren abgebrochen, weil der Bildungsstand der Schüler sich gegenüber jenen deutlich verschlechtert hatte, die keine Computer hatten.

Das Gehirn muss also gebraucht werden. Aber auch lesen im Internet ist Gebrauch. Warum kann sich das nicht positiv auswirken?
Internet führt nicht prinzipiell zum Schlechten. Es hängt immer davon ab, was man mit dem Computer tut. Doch die Studien, die wir heute haben, zeigen, dass Kinder besonders gefährdet sind. Wenn sie ganz klein sind, können sie von digitalen Medien gar nichts lernen. Ab dem dritten Lebensjahr können sie lernen – aber das, was sie nicht lernen sollten; z. B. ungesunde Sachen essen oder aggressiver werden. Und wenn wir uns vor Augen halten, dass Kinder heute doppelt so viel Zeit mit digitalen Medien verbringen wie mit dem gesamten Schulstoff, dann gibt einem das schon zu denken.

Ist es nicht egal, wo man etwas liest, es kommt doch auf den Inhalt des Gelesenen an?
Die Gefahr liegt darin, dass die Inhalte im Internet mit Hyperlinks aufgefettet sind. Das sind die Dinge, die eher schaden. Man verzettelt sich, wird unaufmerksam. eBooks haben angeblich den Vorteil, dass sie ein interaktives Medium sind. Aber genau das scheint ein Nachteil zu sein, weil man sich Konzentrationsunfähigkeit antrainiert.

Macht googeln blöd?

Reden wir übers Multitasking!
Einen Text auf dem Bildschirm bearbeiten, eine eMail beantworten, und telefonieren – wir machen alles gleichzeitig. Angeblich müssen wir das lernen, damit wir in der modernen, digitalen Welt erfolgreich sein können. Doch die Menschen sind schlichtweg nicht dafür gebaut, mehr als einem Handlungsstrang zu folgen. Versuchen Sie mal zwei Unterhaltungen gleichzeitig zu führen! Es geht nicht! Tut man es trotzdem, trainiert man sich eine Aufmerksamkeitsstörung an. Multitasker beherrschen alle geistigen Fähigkeiten, die sie zum Multitasken brauchen (Unwichtiges wegdrücken, Aufgabenwechsel) schlechter als Leute, die nicht Multitasken. Und: Sie haben nachweislich Probleme bei der Kontrolle ihres Geistes.

Herr Professor, sind Sie fortschrittsfeindlich?
Gar nicht! Ich profitiere enorm und arbeite den ganzen Tag mit elektronischen Medien. Aber im Hinblick auf das Suchtpotenzial und die geistige Verflachung müssen wir uns fragen, ob es sinnvoll ist, Medien und Computer in Kindergarten und Schule einzuführen.

Wenn keiner auf Ihre Warnungen hört, wie schaut die Welt in zehn Jahren aus?
Auch darüber gibt es eine Studie, für die man tausend US-Internet-Spezialisten befragt hat. Etwa die Hälfte glaubt, dass alles ganz prima werden wird. Die andere Hälfte meint, dass wir uns geistig in eine schlechte Richtung entwickeln, sehr viel unkonzentrierter werden und es darauf hinausläuft, dass wir uns weniger im Griff haben.

Sie haben selbst Kinder. Was würden Sie Eltern raten?
Die Dosis beschränken. Bei uns stand der nicht allzu schnelle Computer – es gab nur einen für fünf Kinder – in einer zugigen Ecke. Stundenlang davorsitzen hat also keinen Spaß gemacht. Zudem habe ich die Parole ausgegeben: Wenn ich nur ein Computerspiel darauf erspähe, mit dem Zeit totgeschlagen wird, ist der Computer weg. So konnte ich meine Kinder vor den Schrecklichkeiten der digitalen Segnungen weitestgehend bewahren.

Wobei es vor einigen Jahren noch leichter war ...
... es war leichter, weil es noch keine Smartphones gab, die ja bekanntlich auch versteckte Spielekonsolen mit Zugang zum Netz sind. Ich kann nur an alle appellieren, den gesunden Menschenverstand walten zu lassen und nicht auf die Marktschreier zu hören.

Info: Zur Person und zum Buch

Renommierter Gehirnforscher Manfred Spitzer, geboren 1958, studierte Medizin, Psychologie und Philosophie. Er war Gastprofessor an der Harvard University und leitet heute die Psychiatrische Universitätsklinik in Ulm sowie das Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen. Auf Bayern Alpha moderiert er die Sendereihe Geist & Gehirn. Manfred Spitzer ist einer der bedeutendsten deutschen Gehirnforscher.

Kontroverses Werk Digitale Medien machen dick, dumm und aggressiv, behauptet der Neurobiologe in seinem neuen Buch. Sie nehmen uns geistige Arbeit ab und führen so zu schleichendem Gedächtnisverlust. Besonders sensibel reagieren Kinder: Aufmerksamkeits- und Schlafstörungen, Gewaltbereitschaft und Übergewicht diagnostiziert der Gehirnforscher nach Studium der neuesten Forschungen. Nachzulesen in: „Digitale Demenz". Droemer, 20,60 €.

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