Wie sich mangelnder Naturkontakt auf Kinder auswirkt

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Wenig "artgerechtes" Alltagsleben der Kinder fördert seelische Probleme - eine Psychologin steuert gegen.

Vieles von dem, wovor Eltern ihre Kinder – hauptsächlich, aber nicht nur – im urbanen Raum beschützen, würden die Kleinen dringend brauchen: Unbeaufsichtigtes Spielen, Matsch, Dreck, sogar ein gewisses Risiko. Und alle, denen das fehlt, wachsen eigentlich nicht "artgerecht" auf.

Moderne Gesellschaftsstrukturen haben die Lebenswelt von Kindern und somit die Kindheit selbst verändert – insbesondere die geringe Möglichkeit zum "Naturerlebnis".

Studien weisen drauf hin, dass psychische Probleme mit dieser veränderten und beschleunigten Lebensweise zu tun haben. Davon kann die klinische Kinder- und Jugendpsychologin Christine Wondratsch aus ihrer praktischen Erfahrung berichten. Sie hat sich entschlossen, bei der Arbeit mit diesen Kindern zu nutzen, was sie als enorme Unterstützung empfindet: Den Aufenthalt in der Natur.

Heilung

Das Arbeiten in und mit der Natur ergänzt und bereichert die klinisch-psychologische Arbeit auf vielen Ebenen: Die Natur macht die Behandlung sehr körperlich – speziell durch aktives Tun. Der Bogen spannt sich von ausgelassenen dynamischen Spielen zu Konzentrations- und Wahrnehmungsübungen, Achtsamkeitsübungen, Entspannungs-, Regenerations-, Körperübungen, Imaginativen, kreativen und stillen meditativen Methoden. Die Begegnung mit der Natur und sich selbst in der Natur erlebt Wondratsch als ursprünglichsten Weg zu Selbsterkundung, Erneuerung und Heilung.

Zu diesem Zweck hat die knapp 38-Jährige ihre Arbeit am AKH Wien aufgegeben und in Bad Pirawarth im niederösterreichischen Bezirk Gänserndorf einen ehemaligen Bauernhof saniert. Der "Bärenhof" ist aber nur Basisstation für "Behandlungsräume", die ein Stück entfernt in einer Aulandschaft liegen. Da hat Wondratsch gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten ein Stück gebändigte Wildnis geschaffen, den "Waldgarten". Auf schmalen Pfaden zwischen Wildobststräuchern erwandert man versteckte Sitzgelegenheiten, Feuerstelle, ein Tipi-Zelt oder einen Steg, der in einen Schilf-gesäumten Teich ragt.

Was der Platz mit den Kindern macht, verblüfft selbst Wondratsch: "Das Beschäftigen mit der Natur löst vieles aus, lässt die Kinder plötzlich Dinge aussprechen, die weiter helfen", erklärt sie, bleibt aber vorsichtig: "Der kausale Zusammenhang zwischen psychischen Problemen und fehlendem Naturkontakt ist nicht direkt belegt. Aber immer mehr Studien weisen in diese Richtung."

Belastbarer

Wondratsch nennt Beispiele: Man weiß inzwischen, dass Kinder einen besseren Gleichgewichts-Sinn entwickeln, wenn sie barfuß auf der Erde herum toben als auf Wohnungsboden. Dass sie mehr Ausdauer, Geduld und Kreativität entwickeln, wenn sie sich mit Gegenständen in der Natur beschäftigen. Gleichzeitig werden psychische Widerstandsfähigkeit, Umgang mit Frustration und Leid verbessert. Der Alltag sieht oft anders aus: Laut einer Untersuchung wächst die Hälfte aller Kinder weltweit in einer städtischen Umgebung auf. Dazu kommen Leistungsdruck, elektronische Medien, die jedes bisschen Restfreizeit blockieren, und das hohe Kontrollbedürfnis der Eltern.

Wondratsch zitiert Gary Snyder, Poet, Philosoph und Wildnis-Experte in den USA: "Die Natur ist nicht ein Ort, den wir besuchen – sie ist unser Zuhause. Und nichts benötigt der entfremdete Mensch unserer Zeit mehr, als endlich wieder zu Hause anzukommen."

www.baerenhof-pirawarth.at

Untersuchungen. Dem deutschen Jugendreport Natur 2010 zufolge verbrachten weniger als die Hälfte der Befragten täglich einen Teil ihrer Freizeit im Freien. Das heißt, ein Großteil des Nachwuchses lernt und spielt beinahe ausschließlich in geschlossenen Räumen.

Die Auswirkungen der Naturentfremdung: „Verringerte Sinneserfahrungen, Aufmerksamkeitsprobleme und ein höheres Maß an körperlichen und emotionalen Erkrankungen“, hält der US-amerikanische Autor Richard Louv 2011 in seinem Buch Wer war das letzte Kind im Wald? fest. Er schreibt von einer „Kultur der Angst“ und „Kriminalisierung des Spiels“ im Freien. Denn Naturerfahrung fördert auch die zwischenmenschliche Interaktion. Kinder können aus seiner Sicht ohne Natur funktionieren, aber sie verkümmern.

Laut dem Vorsitzenden der deutschen Stiftung für psychische Kindergesundheit, Gerd Lehmkuhl, litten bereits 2013 rund 20 Prozent der deutschen Kinder unter seelischen Störungen.

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