Was heißt … Bruttoinlandsprodukt?

Was heißt … Bruttoinlandsprodukt?
Das BIP ist umstritten: Kritiker sehen die Messgröße als Hauptgrund für fehlgeleitetes Wachstumsdenken.
Was heißt … Bruttoinlandsprodukt?
Wer ist schuld am Auf und Ab der Wirtschaft? Die Sonnenflecken, lautete die verblüffende Antwort des britischen Ökonomen William Stanley Jevons (1835–1882). Klingt skurril, war damals aber plausibel: Die Schwankungen der Konjunktur hingen maßgeblich davon ab, wie die Ernte ausfiel. Und ein Zusammenhang von Sonnenflecken und Klima gilt mittlerweile als erwiesen.

Ob eine Ernte gut oder schlecht war, lässt sich mit einer Waage einfach überprüfen. Aber wie misst man heute, im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung, ob die Wirtschaft wächst oder schrumpft? Dafür hat sich ein Maß eingebürgert, das der Ökonom Philipp Lepenies die "mächtigste Zahl der Welt" nennt: das Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP.

Welcher Wohlstand?

Eine Zahl kann natürlich nur Macht besitzen, wenn sie ihr zugeschrieben wird. Tatsächlich wird oft so getan, als wären "die Wirtschaft" und das BIP ein- und dasselbe. Wenn Zeitungen verkünden, "die Wirtschaft wächst", ist in der Regel gemeint: Das reale BIP ist höher ausgefallen als im Vergleichszeitraum – im Vormonat oder vor einem Jahr. Umgekehrt spricht man von einer Rezession, wenn das BIP zwei Quartale in Folge gefallen ist.

Aber was heißt das genau? Das BIP berechnet den Wert aller in einem Zeitraum produzierten Güter und Dienstleistungen, die einen Marktpreis haben und somit in Geld gemessen werden können. Klingt logisch, ist aber ein sehr beschränkter Blick auf die Wirklichkeit.

Was heißt … Bruttoinlandsprodukt?
"Was wir messen, beeinflusst, was wir tun", sagt deshalb der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz. Er spricht sogar von einem großen "BIP-Schwindel": Die Kennzahl BIP pro Kopf wird nämlich gern als Indikator für den Wohlstand eines Landes verwendet. Der Vergleich (Tabelle) zeigt: Die höchsten Werte erreichen die Glücksspiel- und Finanzcasinos, die ölreichen Autokratien und Steueroasen dieser Welt. Will man dort leben?

Entwickelt wurde das BIP in den 1930er-Jahren während der Großen Depression. Sein Siegeszug begann aber erst, als die USA im Zweiten Weltkrieg wissen wollten, ob trotz der Produktion von Panzern, Gewehren und Munition genügend Ressourcen für die Bevölkerung übrig bleiben. Es wurde nicht mehr drauf geschaut, wie viel Geld die Menschen in der Tasche hatten, sondern wie viel erzeugt wurde. Nach dem Krieg stülpten die USA das Konzept anderen Staaten über.

Orientierungshilfe Durchgesetzt hat sich das BIP, weil es einen unschlagbaren Vorteil hat. Es kann praktisch in Echtzeit ermittelt werden. Gleich nach Ende eines Quartals gibt es erste Schätzungen. Deshalb wurde es zur beliebten Orientierungsgröße für Politiker. Dahinter stand die Überlegung: Wenn das BIP steigt, also mehr produziert wird, hat das positive Nebeneffekte: mehr Jobs, weniger Arbeitslose, höhere Einkommen, mehr Steuern für die Staatskasse. Ob das heute noch gilt, darf bezweifelt werden. Durch den Einsatz von Robotern oder Finanzspekulation gibt es Wachstum, das keine neuen Jobs schafft.

Vergleichbarkeit Über die Jahrzehnte wurde die Statistik immer ausgefeilter. Daten zur BIP-Entwicklung sind somit über große Zeiträume und für fast alle Länder der Welt verfügbar.

Unbezahlte Arbeit Das BIP lässt viele Tätigkeiten unberücksichtigt, an denen kein Preiszettel pickt – selbst wenn sie gesellschaftlich wertvoll sind: Unbezahlte Hausarbeit, Pflege von Angehörigen, Kindererziehung, Freiwilligenarbeit. "Wenn ein Mann seine Köchin heiratet, verringert sich das Volkseinkommen", kommentierte Statistiker Arthur Cecil Pigou 1920 ironisch. Die Köchin wird nicht mehr bezahlt, ihre Tätigkeit bleibt ungezählt.

Keine Moral Drogenhandel, Prostitution, Schmuggel und Schwarzarbeit steigern wohl kaum die Lebensqualität. Dem BIP wird diese "informelle Wirtschaft" aber zugerechnet. Hingegen sinkt das BIP nicht, wenn Häuser, Fabriken und Straßen durch Kriege oder Naturkatastrophen zerstört werden. Im Gegenteil: Der Wiederaufbau erhöht die Wirtschaftsleistung .

Überholt Im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung wird die BIP-Ermittlung immer aufwendiger. Die Wertschöpfungsanteile (siehe Glossar) auseinanderzuklauben wird fast unmöglich, wenn Produkte zur Verarbeitung über zig Länder und Kontinente verschifft werden.

Verteilung Das BIP pro Kopf sagt wenig über die tatsächlichen Einkommen der Menschen aus – und gar nichts über ihre Verteilung.

Wachstum Das BIP verstärke den Glauben an ein grenzenloses Wachstum, sagen Kritiker: Es fragt nicht, wie ein Produktionsplus zustande kommt – ob die Schulden dafür in den Himmel wachsen, Urwälder abgeholzt oder die Luft verpestet wurden, spielt keine Rolle.

BIP-Kritiker Joseph Stiglitz saß einer prominent besetzten Kommission vor, die Statistik-Alternativen finden sollte und 2009 einen 292-seitigen Bericht vorlegte. Bewirkt hat das freilich wenig.

Fazit: Man sollte das BIP als das nehmen, was es ist – eine Kennzahl unter vielen.

Bruttosozialprodukt

Kinder der 1980er werden sich an das One-Hit-Wonder Geier Sturzflug erinnern: „Ja, ja, ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt,wir steigern das Bruttosozialprodukt“. Diese Messgröße war bis etwa zur Jahrtausendwende dominant. Das BSP misst die Wertschöpfung aller Staatsbürger (auch jener im Ausland). Das BIP hingegen enthält die im Inland erbrachten Leistungen (auch von Ausländern).

BIP nominell/real

Im Lauf der Jahre werden Produkte durch die Inflation teurer – quasi „von selbst“. Somit steigt das (nominelle) Bruttoinlandsprodukt, auch wenn gar nicht mehr erzeugt wurde. Um die Produktionsmengen über die Zeit hinweg vergleichen zu können und somit ein Bild des tatsächlichen Wachstums zu erhalten, muss man folglich die Teuerungsraten herausrechnen: Das nennt sich reales BIP.

Wertschöpfung

Würde man die Preise aller Dienstleistungen und Güter und der darin enthaltenen Vorleistungen und Vorprodukte einfach zusammenzählen, wäre das Ergebnis wegen Mehrfachzählungen verfälscht. Im Preis einer Wurstsemmel sind natürlich alle Kosten für Wurst, Semmel, Mehl und Getreide, Arbeitsleistung, Energie etc. enthalten. Diese müssen somit als Wertschöpfungsanteile ausgewiesen werden.

Human Development Index

Die Vereinten Nationen veröffentlichen den Index seit 1990. Er berücksichtigt neben materiellem Wohlergehen etwa auch die Lebenserwartung und Bildungsdauer. Das soll ein breiteres Bild menschlicher Entwicklung zeichnen. Auch die Statistik Austria legt als Antwort auf die BIP-Kritik jährlich einen umfassenden Bericht vor, der Wirtschaft, Umwelt und Soziales berücksichtigt („Wie geht’s Österreich?“).

Kommentare