BIP: Die mächtigste Messgröße der Welt

Produktion bedeutet Wohlstand? Die BIP-Statistik bestimmt, wie wir die Wirtschaft sehen – ohne dass wir uns dessen bewusst sind.
Erst der US-Erfolg im Zweiten Weltkrieg verhalf der Statistikgröße zum Durchbruch.

Wie geht es der Wirtschaft? Muss ein Staat sich einem Spardiktat unterwerfen oder nicht? Zählt eine Nation zu den führenden Volkswirtschaften, oder ist sie ein Entwicklungsland? All das hängt von einer einzigen Zahl ab: dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das übliche Maß für die Wirtschaftsleistung ist ist die "mächtigste Kennzahl der Menschheitsgeschichte", sagt der deutsche Ökonom Philipp Lepenies. Trotz – oder gerade wegen – seiner zahlreichen Mängel.

KURIER: Wie kann eine Zahl mächtig sein?

Philipp Lepenies: Kein anderes Messkonzept ist heute so sichtbar wie das Bruttoinlandsprodukt. Mit dieser Zahl wird Politik gemacht – und sie drückt Macht aus. Ein Beispiel: Die G-8-Staaten haben sich primär wegen ihrer Wirtschaftskraft zusammengeschlossen.

Wie wurde das BIP so mächtig?

So allgegenwärtig das BIP heute ist – noch vor 50 oder 60 Jahren wurde die Zahl gar nicht benutzt. Entscheidend waren dafür die USA und zwei Ereignisse: die Weltwirtschaftskrise von 1929 und der Zweite Weltkrieg.

Welche Rolle hat die Große Depression gespielt?

Man muss sich das dramatisch vorstellen. Die Leute waren in Massen arbeitslos, das Elend auf der Straße unübersehbar. Die Politiker hatten aber keine Informationen an der Hand, um ein zusammenhängendes Bild zu zeichnen. Dieses Unwissen war die Geburtsstunde der Wirtschaftsstatistik – anfangs ging es dabei um die historische Analyse: Man wollte 1932 wissen, was ist 1929 passiert.

Was für die Steuerung der Politik wohl wenig gebracht hat…

Es wurde dann sehr schnell begonnen, die Zahlen quartalsweise zu schätzen. Somit war der Schritt zur politischen Steuerungsgröße ein kleiner. Das hatte viel mit dem Kriegseintritt der USA 1941/1942 zu tun. Die Sorge lautete: Wenn so viel Eisenerz und Stahl für Panzer und Gewehre benötigt wird, bleibt dann genug, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu decken? Vorher hatte man das Konzept des Volkseinkommens. Der Trick war: Na gut, schauen wir nicht mehr wie in der Weltwirtschaftskrise darauf, was die Menschen in der Tasche haben, sondern auf das, was produziert wird. Dann werden schon Viele Arbeit finden. Das trat tatsächlich ein.

Wie kam das BIP-Konzept nach Kontinentaleuropa?

Die USA haben dafür gesorgt, dass man alle Länder vergleichen kann. Die Empfängerländer des Marshallplans mussten das (damals) Bruttosozialprodukt nach amerikanischer Methode ausweisen. So haben die USA den westlichen Ländern und der dritten Welt fast imperial nicht nur eine Statistik übergestülpt, sondern ein ganzes Weltbild: Dass man im Entwicklungsprozess hohes Wachstum braucht – und alle werden können wie die USA.

Was zum BIP zählt oder nicht, scheint ziemlich willkürlich.

Die Statistik ist arbiträr. Es gibt immer den Punkt, wo die Politik oder Wissenschaft eine Festlegung trifft. Ins BIP werden produzierte Güter und Dienstleistungen gerechnet, die am Markt einen Preis haben und in Geld gemessen werden. Unbezahlte Hausarbeit zum Beispiel hat keinen Marktwert – deshalb fließt sie nicht ein.

Schmuggel, Drogenhandel oder Schwarzarbeit sollen den Wohlstand eines Landes erhöhen, die häusliche Pflege des Großvaters nicht. Absurd, oder?

Absolut. Man muss sich fragen, ob das BIP überhaupt ein Wohlstandsindikator sein kann. Es erfasst ja nur produzierte Güter und Dienstleistungen zu Marktpreisen. Die Liste der Mängel ist lang. Historisch ist interessant: Nachdem die USA mit ihrer Aufrüstung die Achsenmächte im Zweiten Weltkrieg in die Knie gezwungen hatten, galt die Produktionsausweitung auch als politisches Dogma, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen oder den Kommunismus in Schach zu halten. Man war der Überzeugung, dass die Steigerung der Produktion Wohlstand bringt. Erst in den 1960ern kam Kritik auf.

Dennoch schauen wir gebannt auf BIP-Quartalszahlen, ob es uns besser oder schlechter geht.

Es gehört zum Phänomen, dass das BIP der Kritik von 50 Jahren standgehalten hat. Für die Politik ist es sehr nützlich. Alternative Messgrößen sind oft nicht so zeitnah verfügbar. Und in der politischen Kultur ist die Vorstellung unglaublich weit verbreitet, dass man mit BIP-Wachstum eigentlich alle wirtschaftlichen und sozialen Probleme einer demokratischen Legislaturperiode lösen kann.

Brauchen wir nicht – unabhängig von der Statistik – Wachstum, um Jobs zu erhalten?

Damals konnte man davon ausgehen: Wird mehr produziert, haben mehr Menschen Arbeit. Im Zeitalter der Automatisierung kennen wir Phänomene wie "jobless growth" (Wachstum ohne Jobs), die das Wachstumsdogma etwas in Frage stellen könnten.

Was wäre die bessere Methode?

Wir zäumen das Pferd falsch auf. Die entscheidende Frage ist nicht: Was messen wir? Sondern: Was ist uns wichtig – was bedeutet gutes Leben im 21. Jahrhundert?

Zur Person

Philipp Lepenies, geboren 1971, ist Senior Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. 2013 erschien sein Buch „Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des BIP“ (Suhrkamp).

Das BIP

Die Wirtschaftsleistung eines Landes – heute wird darunter ganz selbstverständlich das Bruttoinlandsprodukt verstanden, das den Wert aller in einer Periode hergestellten Güter und Dienstleistungen bezeichnet. Es gilt obendrein noch als Indikator für Fortschritt und Wohlstand.

„Wenn ein Mann seine Haushaltshilfe oder Köchin heiratet, verringert sich das Volkseinkommen“, kommentierte der englische Ökonom und Statistikpionier Arthur Cecil Pigou schon 1920 trocken.

Fetisch Marktpreis

Bis heute ist das einer der größten BIPMängel: Weil Freiwilligen- und Hausarbeit, Pflege und Kindererziehung keine Preisschilder haben, sind sie für die Statistik nicht existent.

Ohne Moral

Das BIP kennt kein richtig oder falsch. Ob ein Unternehmen die Umwelt schädigt oder Ressourcen ausbeutet, spielt keine Rolle. Ja, sogar die Beseitigung der Schäden durch den Super-GAU in Fukushima, die Havarie der Ölbohrplattform Deepwater Horizon oder von Naturkatastrophen tragen zum BIP-Wachstum bei – bis hin zu Begräbniskosten. Drogen, Prostitution, Schmuggel, Sklaverei, Schwarzarbeit: Steigert das wirklich den Wohlstand einer Gesellschaft? „Das BIP misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht“, stellte Robert Kennedy 1968 fest.

Unsozial

Dass das BIP pro Kopf steigt, heißt nicht, dass es allen Menschen besser geht. Der Indikator sagt nichts über die Verteilung.

Alternativen

Im November 2007 suchten EU, Club of Rome, OECD und WWF Wege „Beyond GDP“ – über das BIP hinaus. 2009 berief Frankreichs Ex-Premier Nicolas Sarkozy eine Kommission mit fünf Nobelpreisträgern rund um Joseph Stiglitz ein. Eines der Mitglieder war der Statistikprofessor Enrico Giovannini, von 2013 bis Februar 2014 Italiens Arbeitsminister. Umsonst seien die Bemühungen der Kommission nicht gewesen, betont Giovannini: Die Statistikwelt beschäftigte sich heute intensiv mit der Frage, was Wohlstand ausmacht. Das verfügbare Haushaltseinkommen wäre ein viel besserer Indikator als das BIP, allerdings müssten die Zahlen ebenso quartalsweise verfügbar sein, sagte er zum KURIER. Giovannini ist für eine Konferenz von Statistik Austria und Eurostat in Wien. 450 Teilnehmer aus 54 Ländern beschäftigen sich drei Tage mit der Frage, wie Statistiken verbessert werden können.

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