Die Zeit heilt nicht alle Wunden

Die Zeit heilt nicht alle Wunden
Österreichische Ex-Kicker, die 1999 das 0:9 von Valencia miterlebten, fühlen mit den Brasilianern mit.

Es gibt Dinge im Leben, die kann man rational einfach nicht erklären. Ufo-Landungen zum Beispiel. Oder, dass man im Supermarkt immer in der langsamen Schlange vor der Kassa steht. Oder wenn man plötzlich einen Lottosechser macht. Oder, dass man als Österreicher gegen Spanien mit 0:9 und als Brasilianer gegen Deutschland mit 1:7 verliert.

Einige österreichische Ex-Fußballer hatten am Dienstagabend mit den Brasilianern besonderes Mitleid. Weil sie nach dem 0:9 von Valencia annähernd ahnen konnten, was in den Spielern der Seleção vorgehen musste. "Ehrlich, ich habe noch während der Fernsehübertragung an das 0:9 in Valencia gedacht", gesteht Andreas Herzog. "So wie damals beim 0:9 hatte auch das 1:7 nichts mit zu geringem Einsatz der Brasilianer zu tun. Du willst, aber du kannst nicht. So etwas kommt im Fußball immer wieder vor, auch wenn es Außenstehende nicht begreifen können."

Völlige Ohnmacht

"Rational ist das nicht zu erklären", unterstreicht ORF-Experte Roman Mählich. "Du fühlst dich ohnmächtig", gibt Arnold Wetl einen Blick ins Innenleben frei. Der Steirer hat in Valencia zu allem Überdruss auch noch ein Eigentor produziert. "Du bist immer um einen Schritt zu spät dran, stehst fast in jeder Situation am falschen Ort. Du willst zwar, aber es funktioniert nicht, was du dir vorgenommen hast." Klingt einfach, ist es auch.

Mählich kann die Situation der Brasilianer nur bedingt nachvollziehen. "Für sie muss das viel ärger gewesen sein. Als Österreicher musst du damit rechnen, dass du von einer Top-Nation eine Klatsche bekommst. Aber die Brasilianer kannten diese Situation bis dahin sicher nicht. Es muss sich daher ärger angefühlt haben." Eine Parallele sieht er dennoch zwischen Valencia 1999 und Belo Horizonte 2014: "Wir waren damals unterirdisch, Spanien hat auf hohem Niveau gespielt. Deutschland hat die Schwächen Brasiliens gnadenlos ausgenützt. Fünf Tore in 18 Minuten – das haben nicht einmal wir gegen Spanien zusammengebracht."

Nur noch Passagier

Peter Schöttel verfolgte das Spiel im VdF-Camp in Steinbrunn, wo er aktuell arbeitslose Kicker trainiert. "Ab der 30. Minute habe ich mitgelitten mit den Brasilianern. Ich bin vor dem Fernseher immer ruhiger geworden, war regelrecht schockiert." Damals in Valencia musste er gegen Superstar Raúl spielen, konnte sich aber nicht einmal mit Fouls wehren. "Ich bin nicht dazu gekommen, er war zu schnell. Und auch Brasilien war mit der Situation überfordert, hat Tore bekommen, die man sonst nur beim Turnier in der Wiener Stadthalle gesehen hat." Schöttel versuchte seinen AMS-Kickern dieses Phänomen zu erklären. "Ab einem gewissen Zeitpunkt im Spiel bist du nur noch Passagier. Du hoffst nur, dass es so glimpflich wie möglich endet." Ähnlich dachte Mählich 1999: "Bei 0:5 habe ich auf einen Stromausfall gehofft. Du stehst auf dem Platz und weißt, dass du nichts mehr machen kannst. Und spätestens dann ist ohnehin schon alles vorbei."

Peter Schöttel vermutet, dass der immense Druck die Brasilianer von WM-Beginn weg blockiert hat. "Sie haben nie gespielt, was sie drauf haben." Andreas Herzog sagt gleiches und weiß zudem: "Mir wurde schon während unseres Brasilien-Aufenthalts mit dem US-Team erzählt, dass Belo Horizonte die Stadt ist, in der man die Seleção am wenigsten will."

Tränen, Ratlosigkeit und Wut

Die Niederlage der Brasilianer am Dienstag war durchaus keine Überraschung. Schon im Vorfeld der WM war den Spielern bewusst, dass ihr fußballerisches Niveau diesmal niedriger ist als bei früheren Weltmeisterschaften, wo sie so einen Überschuss an Superstars hatten, dass diese zum Teil auf der Bank sitzen mussten

Nun hat Coach Scolari aus Sicht des Mentaltrainings einen großen Fehler begangen. Er hat das vorhandene Defizitbewusstsein verleugnet und stattdessen verkündet: "Wir können diese WM gewinnen! Wir MÜSSEN diese WM gewinnen!" Genau mit diesem Druck sind die brasilianischen Spieler aufs Feld gegangen – und waren überfordert. Das hat man bei dem Match deutlich gesehen: In den ersten zehn Minuten haben sie noch über ihre Verhältnisse gespielt und versucht, die Schwächen zu kaschieren. Doch nach dem ersten Tor hat die Abwärtsspirale begonnen. Es war deutlich erkennbar, wie die Mimik der Spieler verfallen ist. Eine sogenannter Sadness-Disadvantage hat eingesetzt: Wenn man schlecht drauf ist, läuft es auch weniger gut. Drama zieht Energie ab. Spätestens nach dem 0:3 konnte man sogar von einer Sadness-Paralyse sprechen. Die Brasilianer haben aufgegeben.

Die Deutschen konnten hingegen vom Gegenteil, nämlich einem Happiness-Advantage, profitieren. Sie waren in einem regelrechten Spiel-Rausch. Nun heißt es für sie allerdings: Vorsicht, dass nach dem Rausch nicht der Kater kommt! Dieser könnte sich beim Finale einstellen. Die Spieler zehren von der idealisierten Erinnerung des Halbfinales. Wenn es nach der ersten halben Stunde im Finale noch 0:0 oder sogar 0:1 für den Gegner steht, könnten sie an ihrer eigenen Leistung zweifeln, und dann kämpfen auch sie mit der Sadness-Disadvantage.

ROMAN BRAUN ist Mentalcoach von Weltmeistern und Weltcupsiegern, Bestseller-Autor und NLP-Master-Trainer. Sein Basisseminar, das NLP Kompakt, zählt zu den bestbesuchten NLP-Einführungsseminaren in Europa. Sein Background: Studium der Psychologie, Philosophie und Pädagogik, sowie Lebens- und Berufserfahrung als Unternehmer. Seine Weiterbildungen absolvierte er u. a. bei Paul Watzlawick, Bert Hellinger, Steve de Shazer, Viktor Frankl, Richard Bandler, John Grinder, Wyatt Woodsmall u.v.m. Aus dem Spitzensport hat Roman Braun u. a. mit Ski-Star Rainer Schönfelder, Box-Weltmeister Sven Ottke und dem österr. Ruder-Nationalteam gearbeitet.

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