Vier Teams, vier Trümpfe: Das WM-Halbfinale

Vier Teams, vier Trümpfe: Das WM-Halbfinale
Vier Großmächte im Fußball sind noch im Rennen um die WM-Krone. Was spricht für die Halbfinalisten?

Das Maracanã ruft – dieser rundum erneuerte Fußball-Tempel. Am Sonntag (13. Juli) wird im Stadion von Rio de Janeiro der neue Weltmeister den Pokal entgegennehmen. Zwei Halbfinali mit Brisanz sind bis dahin noch zu spielen: Gastgeber Brasilien bittet Deutschland zum Tanz (Dienstag), die Niederländer fordern Argentinien (Mittwoch/jeweils 22 Uhr MESZ).

Vier Fußball-Großmächte, zwei Kontinente. Südamerika gegen Europa – darauf ist diese Endrunde hinausgelaufen. Einen klaren Favoriten gibt es nach den bisherigen Auftritten dennoch nicht – auch deshalb sprechen viele von der aufregendsten WM seit langer Zeit. Dennoch: Jede der vier Mannschaften verfügt über einen einzigartigen Trumpf.

Niederlande

Im Leben von Louis van Gaal geht es um Kontrolle und Ordnung. Im privaten Bereich (seine Kinder sollen ihn siezen müssen) wie auf dem Fußballfeld. Selbst am Samstagabend im aufreibenden Viertelfinalspiel seiner Niederländer gegen Außenseiter Costa Rica schien der Coach alles unter Kontrolle zu haben.

So ließ Van Gaal in der letzten Minute der Verlängerung seinen Stammtorhüter auswechseln. Jasper Cillessen war zuvor 120 Minuten ohne Fehler geblieben, dennoch musste er vor dem Elfmeterschießen Tim Krul Platz machen. "Jeder Spieler im Team hat besondere Qualitäten", sagte Van Gaal. "Und wir fanden alle, dass Tim der bessere Torwart wäre, um Elfmeter zu halten."

Das tat er dann auch zwei Mal, weshalb die Niederländer am Mittwoch die Argentinier zum zweiten Halbfinale bitten. Als großer Sieger darf sich nicht nur Tormann Krul fühlen, sondern vor allem Taktiker Louis van Gaal. "Die Taktik war ein großer Erfolg", diktierte der 63-Jährige in die Mikrofone der Reporter.

Die Jubelstürme der Medienvertreter halten sich dennoch in Grenzen. In seiner ersten Amtszeit als Bondscoach hatte Van Gaal die Qualifikation für die WM 2002 verpasst – eine Schmach. 2014 lauten die Vorwürfe: Der Coach habe die DNA des niederländischen Fußballs, ballorientiertes Offensivspiel mit drei echten Stürmern, dem Erfolg geopfert. In Brasilien trat seine Mannschaft bisher zwar als kompakte Einheit auf, jedoch auf schnelles Umschaltspiel ausgerichtet. Die Granden der Niederlande wetterten, vor allem Johan Cruyff, der 2011 gerichtlich gegen die Bestellung Van Gaals als Sportdirektor von Ajax vorging – mit Erfolg.

Nun könnte er der erste Weltmeister-Trainer der Niederlande werden. Ob der bisherige Erfolg nach der Kritik denn eine persönliche Genugtuung sei, wurde Louis van Gaal dann noch gefragt: "Das habe ich nicht nötig."

Er ist 28 Jahre alt und hat gegen Frankreich im Viertelfinale sein 50. Länderspiel absolviert. Es war das 22., in dem Manuel Neuer keinen Gegentreffer zugelassen hat.
Teamchef Joachim Löw schwärmt von seiner Nummer 1. Der deutsche Teamchef sagte nach dem Einzug ins Halbfinale: „Das ist insgesamt ein wahnsinnig gutes Gefühl für die Abwehr, wenn man weiß, der Torhüter ist in der Strafraumbeherrschung gut, auf der Linie überragend, außerhalb des Strafraums gut, fußballerisch gut. Man kann ihm wie einem Abwehrspieler die Bälle zuspielen.“ Das höchste Lob folgte von Löw auf dem Fuß: „Er gehört seit einigen Jahren, seit 2010, zu den Allerbesten – wenn er nicht sogar der Beste der Welt ist.“

Damals, vor der WM in Südafrika, hatte sich Löw für Neuer als WM-Tormann entschieden. Drei Gegentreffer hat Neuer bisher in Brasilien zulassen müssen, zwei davon in der Vorrunde beim 2:2 gegen Ghana, einen in allerletzter Minute der Verlängerung im Achtelfinale gegen Algerien. Gegen die Afrikaner zeigte Neuer seine Auffassung von modernem Tormannspiel, er agierte als Libero schon vor dem Strafraum.

Gegen Frankreich, als sich Deutschland nach der frühen Führung zurückgezogen hatte, waren seine Fähigkeiten im Strafraum gefragt. Er hielt gegen Valbuena und zeigte sich kurz vor Schlusspfiff als Reaktionskünstler gegen Benzema. Die englische Times nannte ihn nach dem Spiel die „stille Autorität“ im deutschen Spiel.
Wenn es im Halbfinale am Dienstag in Belo Horizonte gegen Brasilien geht, weckt das Erinnerungen an das bisher einzige WM-Duell der beiden Länder: 2002, als Keeper Oliver Kahn nach tollen Leistungen im Turnier ausgerechnet im Finale patzte.

Angel Di María war bisher einer der auffälligsten Spieler der WM. Der 26-Jährige aus Rosario sagt über Lionel Messi, den 27-Jährigen aus Rosario: „Wir müssen Gott wirklich danken, dass er Argentinier ist.“ Messi hat den größten Anteil daran, dass Argentinien erstmals seit 24 Jahren wieder in einem WM-Semifinale steht. Sein kongenialer Partner war dabei Di María. Der schied gegen Belgien mit einer Oberschenkelverletzung aus, sein Berater erklärte, dass der Real-Flügel für den Rest der WM ausfallen werde.

Damit lastet noch mehr Druck auf Lionel Messi, dem letzten Superstar, der dieser WM noch geblieben ist. Belgiens Abwehr-Routinier Daniel van Buyten sagte nach dem Ausscheiden im Viertelfinale: „Für mich ist es etwas Besonderes, sein Trikot bekommen zu haben. Wie es für ihn umgekehrt ist, weiß ich nicht.“ Lionel ist der Messias für die argentinischen Fans. Argentiniens Teamchef stellt Messi auf einen Sockel. „Jede Bewegung, die er macht, ist ein Zeichen der Hoffnung für uns“, sagte Alejandro Sabella. „Wenn du einen Spieler wie Messi hast, der nie oder fast nie den Ball verliert, ist das wie Wasser in der Wüste.“ Messi und seine Kollegen können auf Unterstützung von höchster Stelle bauen: Papst Franziskus ist Fan der Argentinier. Als ihn am Samstag in der Kathedrale im italienischen Isernia ein Bub im Trikot des argentinischen Teams begrüßte, schaute der Papst auf seine Armbanduhr und zeigte diesem die Zeit – nur noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff gegen Belgien.

Der WM-Abschied von Neymar wurde zelebriert wie in einer der in Brasilien so beliebten Telenovelas – einer Seifenoper. Erst flog der 22-Jährige mit der Mannschaft nach Rio de Janeiro zurück, wurde mit dem Krankenwagen ins Teamcamp nach Teresópolis gebracht, das er, festgeschnallt auf einer Trage, in einem Hubschrauber wieder verließ. Die Szene wurde live im Fernsehen übertragen. In einer bewegenden Videoansprache machte er seinen Kollegen Mut: „Sie werden den Titel holen, und ich werde bei der Mannschaft sein. Ganz Brasilien wird zusammen feiern.“

Noch ist nicht klar, wer ihn ersetzen soll – der 1,64 Meter kleine Bernard (Schachtar Donezk) oder Chelsea-Profi Willian. Ein vollwertiger Ersatz müsse ein „Messias“ wie Amarildo sein, sagte Tostão, einer der Weltmeister von 1970. Mittelstürmer Amarildo ersetzte 1962 in Chile Pelé, als dieser verletzt ausfiel – und schoss Brasilien zum WM-Titel.

Trotzig

Nach dem Aus von Neymar setzt man beim Veranstalter im Halbfinale gegen Deutschland in Belo Horizonte auf eine Trotzreaktion. „Wenn die deutsche Mannschaft jetzt glaubt, sie würde gegen eine schwache, entmutigte Mannschaft spielen, wäre das ein enormer Fehler. Wir haben wunderbare Spieler“, sagte WM-Rekordtorschütze Ronaldo. Neben Neymar muss aber auch Abwehrchef Thiago Silva ersetzt werden, vielleicht eine Chance für Bayern-Legionär Dante. Der gesperrte Luiz Gustavo darf wieder spielen.

Vor allem der Heimvorteil soll dafür sorgen, dass es nicht den ersten europäischen Weltmeister auf dem amerikanischen Kontinent geben wird. Die Erwartungshaltung der Fans schafft aber auch Druck für die Spieler. Doch der Neymar-Effekt (eine willkommene Entschuldigung im Fall des Ausscheidens) könnte für Erleichterung und Befreiung sorgen. „Brasilien hat große Qualität bei den Einzelspielern. Da spielst du gegen ein gesamtes Stadion, gegen ein gesamtes Land. Das ist schon etwas Besonderes“, sagte der deutsche Teamspieler Toni Kroos.

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