Wie Menschlichkeit im Spital gelingt

Philosoph Clemens Sedmak zeigt auf, wie ein menschlicher Umgang im Krankenhaus gelingen kann.

Hektik, Zeitknappheit, ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein: Das alles belastet den Aufenthalt im Krankenhaus zusätzlich. Dass die Patienten damit unzufrieden sind, ergab auch eine Umfrage für die Vinzenzgruppe: Die Patienten wollen in (Therapie-)Entscheidungen besser eingebunden sein. Der Philosoph Clemens Sedmak zeigt in seinem neuen Buch „Mensch bleiben im Krankenhaus“, wie der Mikrokosmos Krankenhaus wirklich heilsam sein kann – für Patienten und Personal.

KURIER: Ist Spitzenmedizin und Menschlichkeit vereinbar?
Clemens Sedmak: Wenn unter „Spitzenmedizin“ in erster Linie technisch unterstützte medizinische Dienstleistung auf höchstem mechanischen Niveau verstanden wird, wird die Herausforderung offensichtlich – zumal es Diskussionen gibt, dass Apparate sowohl das menschliche Auge in seiner Wahrnehmung als auch menschliche Urteilskraft verdrängen können. Es liegt natürlich eine gewisse Gefahr darin, Menschen vor allem von Apparaten vermessen zu lassen, weil dann der einzelne Mensch auf ein Objekt reduziert wird und der Kranke dann nur indirekt ein menschliches Gegenüber hat.

Heilen ist vor allem eine Gesprächssituation. Das soll die technische Unterstützung – mit Betonung auf Unterstützung! – nicht schmälern. Wenn man „Spitzenmedizin“ freilich als Kunst des Heilens auf höchstem menschlichem wie auch technischem Niveau versteht, wird die Herausforderung kleiner. In jedem Fall können nur Menschen die Kluft zwischen Sehnsucht nach Menschlichkeit und Technik schließen.

Sie schreiben von „Objektivierung“ des Patienten, die häufig zur Erniedrigung von Patienten führt. Stichwort: „Der Mensch als Fall und Gegenstand“.
Zum einen liegt das gewissermaßen in der Natur der Sache, also in der Situation, dass nämlich ein Mensch mit einem diagnostizierbaren Problem ins Krankenhaus kommt und dieses Problem (das gebrochene Bein, der Gallenstein, das Blutgerinnsel im Gehirn) im Vordergrund steht. Ich will ja keine gelassene Podiumsdiskussion zwischen Ärztin und Patientin fordern, wenn die sich vor Schmerzen krümmt. Zum anderen haben sich Drücke – Zeitdruck, Kostendruck, auch Erwartungsdruck – erhöht. Das verschärft die Dynamik, Menschen als „Kostenstellen“ oder „Krankheitsträger“ zu sehen. Die Kunst wird darin liegen, Nischen des Menschlichen zu verteidigen und darauf zu achten, dass ein Krankenhaus keine Autowerkstatt ist. Die Patienten müssen auch im Krankenhaus die Erfahrung machen können, als Mensch und damit als verwundbares und doch handelndes und wollendes Wesen wahrgenommen zu werden.

In einem Interview in Ihrem Buch bemängelt ein Jungarzt, dass er psychologisch und sozial nie geschult wurde. Hier gibt es Handlungsbedarf.
Das scheint der Fall zu sein. Es ist so eine Geschichte mit „Ethik“ im Medizinstudium oder die Rolle von „soft aspects“ in der Ausbildung während des Studiums und nach dem Studium. Kernfaktor bleibt wie überall: Der einzelne Mensch macht den Unterschied; man kann Charakterdefizite, an denen wir alle leiden – oder noch schlimmer: durch die wir andere strapazieren – nicht durch Seminare ausbügeln; das geht nicht ohne „ernsthafte Arbeit am Selbst“. Aber diese Entscheidung, an sich arbeiten zu wollen, sich zu sensibilisieren, ist eine Sache, bei der die Ausbildung mithelfen kann. Meines Erachtens ist der Schlüssel zum guten Umgang miteinander die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit. Lehrende mögen nie vergessen, dass sie Lernende sind. Ärztinnen und Ärzte mögen nicht vergessen, dass sie potenzielle Patienten sind.

Kostendruck, Personalmangel – das Spital zwischen Überwachen und Pflegen. Wie viel Raum bleibt da für empathische Fürsorge?
Die Drücke werden stärker, vor allem das Geld schiebt sich immer stärker in immer mehr Bereiche hinein, was man „Monetarisierung der Gesellschaft“ nennen könnte. Michael Sandel hat das in seinem jüngsten Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann“ schön herausgearbeitet. Wenn man das Gut der Gesundheit einer Monetarisierung unterwirft, macht das etwas mit diesem Gut. Es wird auf einmal zu Ware, wird käuflich, wird verkäuflich – das verändert auch die damit verbundenen Handlungen vom Dienst an der Heilung zur Dienstleistung. Nun kann man nicht naiverweise fordern, dass Fragen nach Kosten und Zeit und Leistung nicht eine Rolle spielen sollten; aber „Inseln der Integrität“ zu schaffen und zu verteidigen, wird ebenso gefragt sein wie ein Grundrespekt, eine Grundhaltung der Achtung allen Menschen gegenüber, die im Krankenhaus aus- und eingehen. Das bezieht sich ebenso auf Respekt gegenüber dem Personal wie jenem gegenüber den Angehörigen.

Stichwort Eigenverantwortung: Was macht den mündigen Patienten aus und wie kann er es werden?
Wenn Heilung ein dialogischer Prozess ist, dann müssen die Patientinnen und Patienten natürlich mitspielen. Ich halte es für eine Fehlhaltung, mit einem durch übertriebenen Sport abgenutzten Gelenk ins Krankenhaus zu kommen und zu sagen: „Richtet mir das her!“ So, als würde ich meine kaputte Uhr zum Uhrmacher bringen. Ich halte es demgegenüber für erstrebenswert, wenn wir uns nicht nur über die wichtigen PatientInnen-Rechte unterhalten, sondern auch über unsere Verantwortung, unsere Mitverantwortung. Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass nicht wenige Menschen im Krankenhaus regredieren, und den Erwachsenenstatus aufgeben; andere fallen in eine Anspruchshaltung und fordern nur Dienstleistungen ein. In beiden Fällen ist Mitverantwortung gefragt. Um es anders zu sagen: Wir müssen im Krankenhaus den Regressionseffekt, den beispielsweise erwachsen gewordene Kinder erleben, wenn sie kürzer oder länger ins „Hotel Mama“ zurückkehren, verhindern.

Sie schreiben von „Happy Hospitals“ – was zeichnet so einen glücklichen Ort des Gesundens aus?
Ein „Happy Hospital“ soll nicht so verstanden werden, dass es ein Hotel ist, in dem Menschen nach Strich und Faden verwöhnt werden. Es ist auch klar, dass in einem Spital Menschen sind, die Schmerzen haben, die leiden, deren Leben sich drastisch verändert hat oder dem Ende zugeht. Ein „Happy Hospital“ ist ein Ort, an dem Menschen gerne und gut arbeiten können, und einer, den ich zumindest nicht ungerne besuche. Das hat viel mit Kleinigkeiten zu tun, mit Geräuschen und Farben, mit der Gestaltung des Empfangs, mit den Fenstern und der Nähe zur Natur.

Den viel zitierten „Göttern in Weiß“ – Klinikchefs etwa – wird oft Abgehobenheit vorgeworfen, fern von Patientennähe. Wie sehen Sie das?
Noch einmal: Ich glaube, dass die Anerkennung der eigenen Verwundbarkeit entscheidend ist, um sich nicht zu verrennen. Der amerikanische Philosoph Aaron James hat in seinem witzigen Buch „Assholes“ überlegt, dass die charakterlich schwierigen Menschen, die dem Titel des Buches gerecht werden, diejenigen sind, die a) selbstverständlich exzessive Ansprüche stellen, b) andere nicht als moralisch ebenbürtig ansehen, c) kritikimmun sind.

In einer ausgeprägten Hierarchie, in der man sehr viel an Interaktionen kontrollieren oder im Modus der Überlegenheit auftreten kann, sind diese Gefahren natürlich vorhanden. Die Gefahr ist konkret, dass sich eine „Blase der Selbsttäuschung“ aufbaut, die andere wirklich belastet. Das kennen wir ja von anderen hierarchischen Systemen auch. Ich glaube, dass es vor allem eine Frage des Charakters ist; wer viele Privilegien hat, muss charakterlich sehr fest sein, um nicht von einer gewissen Kultur erfasst zu werden, vielleicht auch unmerklich. Meine persönlichen Erfahrungen sind bis auf zwei Ausnahmen sehr gut. Und dann beeile ich mich natürlich zu sagen, dass sehr viele Ärztinnen und Ärzte Hervorragendes leisten. Und menschlich freundlich bleiben, trotz der großen Belastungen.

Was würden Sie angehenden Jungmedizinern auf ihrem Weg mitgeben?
Es ist möglich und eigentlich wunderbar, „Mensch“ im Krankenhaus zu bleiben, um die Spielräume, die stets bestehen, Menschlichkeit in eine Institution zu bringen, auszuloten und zu nutzen.

Zur Person

Wie Menschlichkeit im Spital gelingt
Clemens Sedmak wurde 1971 in Bad Ischl, Oberösterreich, geboren, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er studierte Theologie, Philosophie, Christliche Philosophie undSozialwissenschaften in Innsbruck, Linz, New York und an der ETH Zürich. Der Dreifach-Doktor Sedmak ist Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg, Präsident der „Salzburg Ethik Initiative“ und lehrt Sozialethik am King’s College London. Er schrieb zahlreiche Bücher, u. a. „Geglücktes Leben. Eine Ethik für meine Kinder“.

Buchtipp

Clemens Sedmak, Mensch bleiben im Krankenhaus - Zwischen Alltag und Ausnahmesituationen, Styria premium, 176 Seiten, 19,99 €.

Wir (Menschen aus der Ersten Welt) haben heute die höchste Lebenserwartung in der Geschichte der Menschheit. Das ist vor allem ein Verdienst der modernen Spitzenmedizin (von denen, die sie ablehnen, bis sie deren Hilfe brauchen, auch gerne verächtlich „Schulmedizin“ genannt).

Der Preis, den wir dafür zahlen: Moderne Medizin ist oft unpersönlich (und teuer). Laut einer Umfrage wünschen sich die Patienten, mehr in Therapieentscheidungen eingebunden zu werden. Der Philosoph Clemens Sedmak plädiert dafür, trotz steigenden Kostendrucks Gesundheit als Gut wahrzunehmen und nicht als Ware. Und dafür, trotz aller Technik ein Spital nicht als Autowerkstatt zu betrachten. Also nicht als „Krankenhaus“, bei dem man vorne Kranke hineinschiebt und sie hinten als etwas weniger Kranke wieder rausschickt. Sedmaks Appell an Jungmediziner: Man kann lernen, im System der Medizin ein Mensch zu bleiben. Klingt selbstverständlich, ist aber vermutlich gar nicht so einfach.

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Sonntag, 3.11.: Woran das Gesundheitssystem krankt

Montag, 4. 11.: Die Herausforderungen für die Gesundheitspolitik

Dienstag, 5. 11.: Traumberuf Arzt?

Mittwoch, 6. 11.: Mehr Menschlichkeit im Spital

Donnerstag, 7. 11.: Strategien gegen lange Wartezeiten in Ambulanzen und vor Operationen.

Freitag, 8. 11.: Wirtschaftsfaktor Medizin.

Samstag, 9. 11.: Pfusch und Pannen: Qualitätssicherung in der Medizin.

Sonntag, 10. 11: Experten präsentieren ihre Reformvorschläge.

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