Ein grünes Stückchen Josefstadt

Ein grünes Stückchen Josefstadt
Grätzel-Kaiser: Beim "Urban Gardening" lernen einander Nachbarn kennen – das nützen vor allem Zugezogene.

Vor gut fünf Jahren zog Architektin Katinka Strzeletz von Münster nach Wien. Eigentlich war der Aufenthalt nur für ein Jahr geplant, aber weil es ihr in der Stadt so gut gefiel, beschloss sie zu bleiben. Der einzige Umstand, mit dem sie in ihrer neuen Heimat Probleme hatte: Sie lernte einfach keine Österreicher kennen. Bis Strzeletz zufällig in der Tigergasse vorbeilief.

Mitten im dicht besiedelten Achten, auf halbem Weg zwischen der viel befahrenen Lerchenfelder Straße und der ebenso frequentierten Josefstädter Straße, ranken sich im kleinen Tigerpark meterhohe Tomatenstauden neben Büscheln von Petersilie und kleinen, dunkelroten Walderdbeeren. In einem Bezirk, in dem Grünflächen aus Platzgründen eher Mangelware sind, hat der Verein "Asphaltpiraten" ein kleines Refugium für Hobbygärtner geschaffen.

Kommunikativ

Ein grünes Stückchen Josefstadt
"Gärtnern bringt die Leute zusammen", weiß Caroline Sommerfeld-Lethen, Koordinatorin des 2012 gegründeten Gartens. Und zwar verbindet es nicht nur jene, die hier ihr Beet haben (Am Tigerplatz gibt es 23 Beete, im nahen Zweitgarten in der Pfeilgasse sind es 45.), sondern schafft auch Gespräche mit Passanten, die beim Vorbeispazieren neugierig werden. Wie es auch bei Strzeletz der Fall war – seit diesem Frühjahr betreut die 30-Jährige ihr eigenes Beet, auf dem sie Mangold, Minze und Tomaten aus Spanien anbaut. Die Gartenarbeit sei aber nur ein Aspekt ihrer Arbeit im Grünen – dazu kommt die Möglichkeit, endlich mit anderen Josefstädtern ins Gespräch zu kommen.

Um die Kommunikation weiter zu steigern, sind ab Juli mehrsprachige Lesungen im Garten geplant. Der erste Teil wird auf Englisch und Spanisch gehalten werden; Letzteres übernimmt Strzeletzs Ehemann, der gebürtiger Spanier ist.

Zwerglgarten

Ähnlich wie Katinka Strzeletz hat es die 43-jährige Biologin Astrid Hammer aus beruflichen Gründen von Deutschland nach Wien verschlagen. Hammer kümmert sich im Tigergarten vor allem um den "Zwerglgarten", jenes Beet, das immer mittwochs von rund 15 Kindern einer nahe gelegenen Kinderkrippe besucht wird; die Walderdbeeren naschen und "sich über jeden entdeckten Regenwurm freuen", erzählt Hammer. Selbst in einem Haus mit großen Garten aufgewachsen, findet Hammer es vor allem für Stadtkinder wichtig, viel Kontakt zur Natur zu haben. Caroline Sommerfeld-Lethen ergänzt: "Damit die Kinder lernen, dass es Erdbeeren nicht nur im Supermarkt gibt."

Straßenbelebung

Der Josefstädter Tigergarten ist dabei nur ein Projekt der "Asphaltpiraten". Dieser Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, den öffentlichen Raum im Allgemeinen kommunikativer zu machen. So findet in der Langen Gasse seit April immer samstags ein Biomarkt statt. Und auch Public Viewings in der Albertgasse hat es bereits gegeben.

Christoph Reinprecht ist Soziologe an der Uni Wien und beschäftigt sich unter anderem mit Migrationsforschung und den Lebensverhältnissen in Städten.

KURIER: Herr Prof. Reinprecht, gibt es die klassische Wiener Grätzelkultur überhaupt noch?

Christoph Reinprecht: Dass bestimmte Wohngegenden einen eigenen Charakter haben, war eine Erscheinung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Damals gab es noch echte Arbeiter- oder bürgerliche Bezirke oder Grätzel, in denen Vertreter bestimmter Berufsgruppen zusammenlebten. Diese Kultur hat sich mittlerweile aufgelöst. Es wird kreuz und quer gewohnt, die Menschen sind deutlich mobiler geworden.

Führte diese Entwicklung zur Anonymität des Großstadtlebens, die so gerne beklagt wird?

Diese Anonymität ist zweifelsohne eine Zumutung: Wir müssen lernen, in der Nähe von Personen oder Objekten zu leben, die uns nicht nahestehen oder die uns nicht gefallen. Gleichzeitig ist sie eine Qualität: Nicht umsonst heißt es: "Stadtluft macht frei." In der Großstadt kann ich mich losgelöst von Herkunft und Zuschreibungen entwickeln. Gleichzeitig fördert das Leben in der Stadt auch die Bildung neuer Gemeinschaften, wie man es bei Migranten sehen kann, die nach Wien kommen.

Apropos Migranten: Der starke Zuzug nach Wien scheint für die meisten Probleme im alltäglichen nachbarschaftlichen Zusammenleben verantwortlich zu sein.

Hier handelt es sich vor allem um ein Thema, das politisch instrumentalisiert wird. Wenn man sich die Situation empirisch anschaut, stellt sie sich wesentlich harmonischer dar. Die Stadt hat aber auch sehr viel gemacht, um ein relativ friedliches Miteinander und Nebeneinander verschiedener Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen.

Zum Beispiel?

Man hat in Wien relativ gute Instrumente zur Bereinigung von Konflikten gefunden. Zum Beispiel mit der MA 17 (für die Integration von Zuwanderern zuständig, Anm.). Oder die Gebietsbetreuung. Wenn es etwa in den "Hotspots" im Gemeindebau kriselt, werden die Menschen vor Ort besucht und Mediation angeboten. Im Gegensatz zu anderen Städten hat Wien auch nie beschlossen, ganze Stadtviertel abzureißen und neu zu bauen, sondern sie stattdessen sanft saniert. Die Menschen konnten also in ihrer Umgebung bleiben. Gemeinsam mit der starken Stellung des sozialen Wohnbaus ist das eine wichtige Qualität.

Welche Maßnahmen bräuchte es zusätzlich, um das Zusammenleben zu verbessern?

Die Möglichkeiten der aktiven Mitgestaltung der eigenen Umgebung durch die Bürger sind erst sehr schwach entwickelt. Das ist die Kehrseite der starken Verwaltung. Sie fühlt sich oft noch auf den Schlips getreten, wenn Bürger mit eigenen Vorschlägen kommen. Der Ausbau der Bürgerpartizipation ist aber nicht zuletzt vor dem Hintergrund des starken Bevölkerungswachstums wichtig.

Ist Wien dafür gerüstet?

Wien hat noch genug Platz für bauliche Verdichtung. Die Stadt war ja gegen Ende der Monarchie für zwei Millionen Einwohner konzipiert. Es muss nur verhindert werden, dass sich alte Gegenden durch das Wachstum entwertet fühlen.

Bei der großen KURIER-Sommeraktion werden Vereine, Initiativen oder einzelne Menschen zu "Wiener Grätzel-Kaisern" gewählt: Wenn Sie in einem Verein tätig sind, der sich für die Verbesserung Ihres Grätzels einsetzt – sei es über kulturelle Veranstaltungen, soziales Engagement oder als Hobbygärtner – dann melden Sie sich per eMail unter graetzel@kurier.at oder auf www.kurier.at/graetzel für die Aktion "Wiener Grätzel-Kaiser" an. Natürlich können sich auch Einzelpersonen bewerben.

Am 29. Juni beginnt das Voting. Bis einschließlich 6. August können KURIER-Leser ihre Stimme abgeben. Der "Wiener Grätzel-Kaiser" wird am 18. August präsentiert. Der erste Preis: Ein großes Grätzel-Fest im eigenen Bezirk.

Alle Teile der Serie gibt's hier.

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