Zehn Gebote für den Tournee-Triumph

Der österreichische Skispringer Gregor Schlierenzauer springt am Freitag (30.12.2011) in Oberstdorf (Schwaben) während des Auftaktspringens der 60. Vierschanzentournee im erste Wertungsdurchgang von der Schattenbergschanze. Der Durchgang wurde abgebrochen aber später neu gestartet. Foto: Andreas Gebert dpa/lby +++(c) dpa - Bildfunk+++
Schanze frei für die 61. Vierschanzentournee. Die vier österreichischen Tourneesieger Loitzl, Kofler, Morgenstern und Schlierenzauer erklären, wie man den Schanzen-Klassiker gewinnt.

Schön langsam bekommen sie im österreichischen Adler-Horst ein massives Problem. Ein massives Platzproblem. Die herkömmlichen Tische im Hotel Oberstdorf, dem traditionellen Domizil des ÖSV beim Tourneeauftakt, sind längst zu klein geworden, um all jenen Herren eine würdige Bühne zu bieten, die seit Jahren die Konkurrenz ordentlich über den Schanzentisch ziehen: Wolfgang Loitzl, Tourneesieger 2009, Andreas Kofler, Tourneesieger 2010, Thomas Morgenstern, Tourneesieger 2011, Gregor Schlierenzauer, Tourneesieger 2012 – ein Tisch genügt für diese Vollversammlung an rot-weiß-roten Siegergenen nicht mehr. „Wir wissen, wie’s geht“, sagt Ernst Vettori, der Sportdirektor der österreichischen Springer und selbst zweifacher Tourneesieger. „So etwas war noch nie da, dass ein Land gleich vier Tourneegewinner stellt, die alle noch aktiv sind.“

Benimmregeln

Wie machen das die österreichischen Skispringer nur? Wieso schweben sie seit Jahren bei der Vierschanzentournee in anderen Sphären? Vor allem aber: Wie wird ein Adler überhaupt erst zum Tourneetriumphator?

Der KURIER hat sich bei den Siegern der letzten Jahre nach den Verhaltensregeln für die Tournee erkundigt: Was ist ein Muss, was ein No-go, was ist für einen Gewinner oberste Pflicht, was völliges Tabu? Die zehn Gebote für die perfekte Tournee:

Die Generalprobe. Die Vierschanzentournee trägt diesen Namen zu Unrecht: Sie ist eigentlich eine Fünfschanzentournee. Denn eine erste Vorentscheidung im Kampf um den Tourneesieg fällt alle Jahre wieder bei der Generalprobe in Engelberg, wenige Tage vor dem Auftakt in Oberstdorf. In Adlerkreisen gilt: Wer auf der Engelberger Großschanze noch nicht in Hochform ist, der wird dann auch zwischen Oberstdorf und Bischofshofen nicht mehr zu Höhenflügen ansetzen. „Du kannst das Skispringen über Weihnachten nicht mehr neu erfinden“, erklärt Wolfgang Loitzl, „während der Tournee wird die Form nur in den seltensten Fällen besser.“

Das Rechenverbot. Der allzu neugierige Blick auf die Resultatsliste hat schon so manchen Springer aus der Flugbahn geworfen. Wer sich auf Rechenspiele und andere arithmetische Tagträume einlässt, der hat bereits verloren. Zumal die Tournee in der Gegenwart schon genug Herausforderungen bietet. „Wichtig ist, dass man die Tournee step by step angeht und sich auf jeden Sprung konzentriert“, sagt Andreas Kofler, „es stört nur, wenn man sich zu viele Gedanken über den nächsten Bewerb macht.“

Der Auftakt. Die Vergangenheit hat gezeigt: Das erste Tournee-Springen ist bereits richtungsweisend. Wer auf der Schattenbergschanze in Oberstdorf ins Rampenlicht springt, der ist nicht selten auch beim Finale in Bischofshofen der große Strahlemann. In den letzten elf Jahren gewann sieben Mal der Sieger von Oberstdorf am Ende auch die Gesamtwertung. „Man kann die Tournee in Oberstdorf nicht gewinnen, aber man kann sie hier verlieren“, weiß Titelverteidiger Gregor Schlierenzauer, der – erraten – Vorjahressieger in Oberstdorf.

Die Konstanz. Eintagsfliegen haben bei der Tournee nichts verloren. Das Zauberwort zwischen Oberstdorf und Bischofshofen heißt Konstanz. Ein einmaliger Höhenflug allein ist zu wenig, ein einziger Ausrutscher schon zu viel. „Du darfst dir bei der Tournee keinen Fehler, keine Schwäche erlauben“, erklärt Gregor Schlierenzauer. Der 22-jährige Tiroler ist ein Muster an Beständigkeit, in jedem zweiten Springen landet er auf dem Podest – vier Siege noch, dann hat er den Finnen Matti Nykänen (46 Weltcupsiege) als Nummer 1 des Skispringens überflügelt. „Das wäre für mich das Größte, weil es zeigt, wie konstant ich in den letzten Jahren gesprungen bin“, sagt Schlierenzauer. Auch bei der Tournee ist Konstanz gefragt: Acht Mal in der Tournee-Geschichte hat ein Springer die Gesamtwertung gewonnen, ohne einen Tagessieg gefeiert zu haben.

Das Beisichbleiben. Ein geflügeltes Wort im Reich der österreichischen Springer. Thomas Morgenstern hat das Beisichbleiben zum Credo erhoben und bei seinem Tourneesieg 2011 praktisch von nichts anderem mehr gesprochen. Was Morgenstern genau damit meint? So eine Tournee mit ihrem stressigen Terminkalender, der großen Publicity, den Medienvertretern und all den Nebengeräuschen bietet viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, vom Kurs abzukommen. „Wenn es mir gelingt, bei mir zu bleiben, dann blende ich alles aus, was um mich passiert, und ich konzentriere mich nur auf mich“, erklärt Morgenstern. Es wäre verständlich, wenn der 26-Jährige diesmal nicht bei sich bleiben sollte – Morgenstern wurde am 25. Dezember Vater einer Tochter (Lilly).

Der Spaßfaktor. Ein ungeschriebenes Gesetz im Adler-Reich lautet: „Spaßvögel fliegen weiter.“ Wer könnte das besser wissen als Jungstar Gregor Schlierenzauer, der vier Jahre lang verbissen und verkrampft seinem erklärten Kindheitstraum Tourneesieg vergeblich hinterhersprang? „Man muss mit Freude an die Sache herangehen und versuchen, die Tournee zu genießen“, sagt der 22-Jährige. Nicht von ungefähr hatten die Österreicher vor Jahren sogar einen Humorberater – kein Schmäh – beschäftigt.

Der Flow. Noch so ein geflügeltes Wort, das am Schanzentisch oft zu hören ist. Der berühmte Flow ist der Idealzustand, den jeder Springer anstrebt. „Du sitzt oben auf dem Balken und weißt genau, dass du jetzt den weitesten Sprung hinunterknallen wirst“, erzählt Thomas Morgenstern, der dieses Gefühl der Unbesiegbarkeit schon öfter in seiner Karriere genießen konnte. Leider ist der Flow kein Dauerzustand, „aber so etwas kann sich während der Tournee entwickeln“, sagt Wolfgang Loitzl. „Da springst du dann wie in Trance.“

Die Fitness. Vier Springen in einer Woche, dazu stundenlange Fahrten von einem Tourneeort zum nächsten – die Tournee ist für die leichtgewichtigen Skispringer auch körperlich eine schwere Herausforderung. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass du topfit anreist“, meint Andreas Kofler, der über Weihnachten eine Verkühlung auskuriert hat. Doch die Belastung für den Körper ist nur das eine, „so eine Tournee ist vor allem mental eine Herausforderung“, weiß Kofler, „weil sich 24 Stunden alles nur ums Skispringen dreht.“ Erholung finden die Österreicher in ihrem Luxusbus, mit dem sie während der Tournee wieder unterwegs sind.

Die Gelassenheit. Die Seriensiege der Vergangenheit sind einerseits Bürde, sie verleihen andererseits aber auch ein Gefühl der Sicherheit. „Wir können heute lustvoll und kreativ die Wettkämpfe angehen“, sagt Erfolgstrainer Alexander Pointner. „Und ich merke auch, dass meine Athleten die Messer zwischen den Zähnen verloren haben und viel relaxter in die Tournee starten.“

Die Konkurrenz. Das Aufbegehren der deutschen Erzrivalen, die bis zum Weltcup in Engelberg den Weltcupleader (Severin Freund) stellten und sogar die Nationenwertung anführten, hat die Österreicher angestachelt und zusätzliche Energie frei werden lassen. „Jetzt geben wir richtig Gas“, kündigt Cheftrainer Alexander Pointner an. „Wir haben es schon gezeigt, dass wir’s können.“ Der österreichische Skisprung-Doyen Anton Innauer ist sogar davon überzeugt, dass die Deutschen den Österreichern Flügel verleihen. „Das kann einige Prozent bringen.“

In Oberstdorf fühlt sich Werner Schuster daheim. Der 43-jährige Kleinwalsertaler ist in Oberstdorf geboren und mit deutschen Tugenden und der deutschen Währung aufgewachsen. „Ich hab’ bis 14 mit der D-Mark bezahlt und mich dann im Skigymnasium in Stams umstellen müssen“, sagt der Mann, der den Deutschen auf die Sprünge geholfen hat, und schmunzelt. Durch die Höhenflüge von Severin Freund und dem 17-jährigen Andreas Wellinger, der vom C-Kader mitten in die Weltklasse gesprungen ist, ist in Deutschland eine neue Skisprung-Euphorie ausgebrochen. „Schön, dass wir bei den Leuten das Interesse geweckt haben.“

KURIER: Herr Schuster, haben Sie selbst mit diesem Aufwind Ihrer Athleten gerechnet?Werner Schuster: Es stimmt, einige unserer Athleten haben sich richtig gut entwickelt. Wir haben jetzt bei der Tournee ein Team am Start, das für Highlights sorgen kann. Das ist schon einmal eine gute Ausgangsposition. Wir haben die Möglichkeit, einen aufs Podest zu bringen oder einen Tagessieg zu feiern.

Einige Experten trauen ja sogar Ihrem Jungstar Andreas Wellinger schon Wunderdinge zu. Moment, Tourneefavoriten sind schon noch andere. Aber ich geb’s zu: Der Andreas Wellinger ist ein sehr interessanter Mann, der mir persönlich extrem taugt. Ich habe schon lange keinen mehr gesehen, der so erfrischend springt wie er.

Ein deutscher Schlierenzauer?Nein, mit dem Schlieri würde ich ihn auf keinen Fall vergleichen. Der Gregor ist außergewöhnlich, der hat in jungen Jahren schon immer alles gewonnen. Wenn man schon krampfhaft nach Vergleichen sucht, dann erinnert Andreas Wellinger in seinem Stil ein wenig an den jungen Morgenstern. Mir ist wichtig, dass er sich gut entwickelt und auf der Leiter nach oben keine Sprosse auslässt.

Sind junge Sportler für einen jungen Trainer dankbarer?Ein junger Sportler lässt sich besser führen und setzt die Dinge schneller um. Er hinterfragt auch ein bisschen weniger, und wenn du einmal eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut hast, dann wird marschiert. Dann zieht er mit. Bei einem älteren Sportler brauchst du mehr Geduld, musst anders argumentieren und agieren, weil er viel mehr erlebt und viel mehr Eigenverantwortung hat.

Sie sind nun seit 2008 deutscher Cheftrainer. Sind Sie zufrieden mit der Entwicklung?

Ich habe sehr gute Bedingungen und spüre auch eine große Wertschätzung von der Verbandsseite. Ohne diesen Rückhalt vom Verband hätte ich es mich auch nicht getraut, diese Arbeit anzugehen. Sonst wäre mir das Amt eine Nummer zu groß gewesen. Ich habe schon in der ersten Zeit sehr viel geändert und eine klare Linie vorgegeben. Mir war wichtig, dass in diesem großen Land die Trainer in Oberwiesenthal nach dem gleichen Muster arbeiten wie die Trainer im Schwarzwald. Da gab’s am Anfang doch eine gewisse Uneinigkeit.

Und jetzt?

Jetzt kriegen wir langsam die jungen Springer hin, und ich bin überzeugt, dass es auch sehr nachhaltig ist, was ich bisher gemacht habe. Ich hoffe schon, dass ich diesmal die Früchte selbst ernten darf. Es wäre mir sehr recht, wenn wir in den nächsten drei Jahren einmal bei einem Großereignis etwas gewinnen. Ziel ist es, Gold und Titel zu holen.

Die Ein-Mann-Show! Außer Hirscher nix gewesen. Kaum hat der Salzburger Pfeif-mir-Nix im Skiweltcup an die Vorjahresform angeschlossen, geht auch schon das kollektive Raunzen los: Und wo sind die anderen?

Provokante Gegenfrage: Wen kümmert’s?

Seien wir ehrlich. So lange da einer ist, der uns vor die TV-Geräte fesselt – oder im Idealfall auf den Live-Tribünen begeistert –, ist es doch völlig egal, ob fünf Österreicher unter die ersten zehn fahren. Im Gegenteil. Diese Zeiten hatten wir. Und der Skiweltcup war drauf und dran, vor die Hunde zu gehen. Es sind nicht die braven Dritten und die tapferen Vierten, die die Massen anziehen. Es sind exakt jene mit dem Hirscher-Gen, mit dem gewissen Etwas, das den Star vom Auchdabei unterscheidet.

Womit wir schnurstracks bei der Ausnahme wären, die diese These gründlich widerlegt. Denn im rot-weiß-roten Adlerhorst wimmelt es vor Alphatierchen.

Schlierenzauer oder Loitzl, Kofler oder Morgenstern – alle haben sie die Tournee gewonnen und dankbar legte sich das Sportvolk Jahr für Jahr vor unterschiedliche Füße. Im Springerteam gelang das Kunststück, aus einer Generation der Sympathieträger eine Generation der Überflieger zu formen. Oder umgekehrt. Was die noch größere Leistung wäre.

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