Vor Olympia: "Die Kluft geht immer mehr auf"

Aus einem Abbruchhaus der Favela "Vila Autodromo" schaut man auf den Olympia-Park.
Julia Bustamente vom Institut für alternative Politik aus Rio kritisiert Ungerechtigkeiten.

Jubelmeldungen kommen aus Rio de Janeiro. 152 Tage vor Beginn der Olympischen Sommerspiele sind die Wettkampfstätten so gut wie fertig. Sogar die U-Bahn, die vom Zentrum zum Olympiapark führen soll, wird rechtzeitig in Betrieb genommen. Höchstwahrscheinlich. Die 16 Kilometer lange Metrolinie ist für die Stadt das wichtigste Infrastrukturprojekt der Spiele.

Doch abseits der offiziellen Jubelmeldungen gibt es kritische Töne. Teile der Bevölkerung leisten Widerstand, sie wehren sich gegen Zwangsräumungen, Gewalt und Verschwendung von Steuergeld. Sprachrohr der Unterdrückten und Vertriebenen ist Julia Bustamente Silva, Menschenrechtsaktivistin vom Institut für alternative Politik aus Rio, derzeit auf Wien-Besuch. Sie kämpft vor allem gegen die gewaltvolle Räumung von Armensiedlungen wie die "Vila Autodromo", einer Favela am Rande des Olympia-Parks. Die Nähe dieser Siedlungen zu den Sportstätten störe die Immobilien-Spekulanten, die in einer aufgewerteten Region der Stadt Grundstücke zur kommerziellen Nutzung wollen, zum eigenen Mehrwert.

Gewalt von oben

"Mehr als 60.000 Menschen wurden schon umgesiedelt, zumeist gegen ihren Willen", sagt Bustamente. "Noch immer finden jeden Tag Zwangsumsiedelungen statt." Die Gewalt der Obrigkeit sei dabei nicht nur psychologischer Natur, sie ist auch handgreiflich. "Die Gewalt ist im ganzen Bundesstaat spürbar. Hier gibt es die meisten Tötungen durch die Polizei. Man spricht von einer pro Tag."

Vor Olympia: "Die Kluft geht immer mehr auf"
Denise Costa, 65, poses for a photograph at her house in the Vila Autodromo slum in Rio de Janeiro, Brazil, July 31, 2015. When asked to describe the community, Costa said: "It's a really good place to live, it's a quiet, family community. This is not like other places where there are gang members. Now everybody is sad because the families got split up when some wanted to go to one place and others to somewhere else. Simply because of Olympic Games, a lot of families were destroyed." As sports arenas rise up around them and neighbours' houses are demolished, around 50 families remain in Vila Autodromo, a favela bordering the Olympic Park in Rio de Janeiro. About half of those refuse to leave the favela, which they describe as "paradise" because of a lack of violence compared with poor areas elsewhere in the city. With a year until the Games come to Brazil, over 90 percent of residents have already left after accepting compensation. The holdouts, despite violent run-ins with police, vow to fight eviction whatever the cost. Living in a ghost town with sporadic access to water and electricity, the families have become a symbol against the use of the Olympic Games to modernize Rio, a move critics say is only benefiting the rich. REUTERS/Ricardo MoraesPICTURE 14 OF 28 FOR WIDER IMAGE STORY "FIGHTING OLYMPIC EVICTION IN RIO FAVELA" SEARCH "RICARDO PARADISE" FOR ALL IMAGES
Der Druck der Politik hat die meisten Bewohner aus ihren Häusern vertrieben. Einige wenige leisten weiter Widerstand. "Die Kluft zwischen Arm und Reich geht immer mehr auf", sagt Bustamente. "Rio hat 6,4 Millionen Einwohner, aber Olympia wird ein exklusives Fest für einen Bruchteil davon." Rio sei mehr denn je eine Metropole an der Peripherie des Kapitalismus, mit exklusiven und überwachten Räumen, die die Reichen von den Armen trennen, die Weißen von den Schwarzen, die Eingeladenen von den Nicht-Eingeladenen.

"Olympische Spiele dürfen der lokalen Bevölkerung nicht schaden", sagt Bustamente. Doch für die Armen wird wenig bleiben. "Das Geld, das in die Spiele gesteckt wird, fehlt in anderen Bereichen, vor allem im Sozialsystem." Kurios: Es gibt in Brasilien mehr leer stehende Immobilien als Menschen, die eine Wohnung suchen. Allerdings sind diese Immobilien für Arme nicht leistbar. Im Schnitt sind die Preise für Wohnraum in Rio von 2012 bis 2015 um 29,4% gestiegen. In Gebieten wie der Favela Vidigal betrug die Steigerung gar 481%.

Vor Olympia: "Die Kluft geht immer mehr auf"
Residents from the Vila Autodromo favela block Abelardo Bueno Avenue during a protest against construction work for the Rio 2016 Olympic Park in Rio de Janeiro April 1, 2015. On March 27, Rio's city council said the land on which the favela sits was needed for "public use" and issued compulsory purchase orders. After years of tension, 90 percent of residents have already left. The ones that remain refuse to leave, creating a potential flashpoint for protests ahead of the Olympic Games. The banner reads, "The mayor, mind, residents of Vila Autodromo are being forced to accept indemnity". REUTERS/Sergio Moraes
Für verbindliche Menschenrechtsstandards bei sportlichen Großereignissen setzt sich die Initiative Nosso Jogo ("Unser Spiel") ein, die 2013 vor der Fußball-WM in Brasilien ins Leben gerufen wurde. Die aktuelle Petition richtet sich an Thomas Bach, den Präsidenten des IOC (http://nossojogo.at/aktiv-werden/petition/).

Schmutzwasser

Ein eigenes Bild vom Olympia-Schauplatz Rio gemacht hat sich Kanutin Ana Lehaci, die mit Partnerin Viktoria Schwarz wohl in Rio antreten wird. Sie hat sich beim Testevent 2015 die Favelas angeschaut und sagt: "Was rundum abrennt, ist extrem traurig. Eigentlich sollten sich die Menschen doch auf die Spiele freuen." Verabsäumt wurde vieles. Etwa die Säuberung des Reviers der Segler und der Kanuten. "Meine Partnerin sitzt im Boot hinter mir und bekommt von mir das Wasser ins Gesicht gespritzt. Sie muss extrem aufpassen und vorher Medikamente schlucken, damit sie nicht krank wird."

Auch Andreas Hanakamp setzt sich für die Sache der Menschen in Rio ein. Der 49-Jährige nahm zwei Mal in der Starboot-Klasse an Olympischen Spielen teil (1996, 2004). "Olympische Spiele sind das Größte, was man sich als Sportler vorstellen kann. Man muss dafür alles investieren. Doch der Preis dafür ist für andere sehr hoch. Unser Traum ist der Albtraum der anderen", sagt er. Und stellt die Frage: "Ist Olympia zur Bespaßung im Fernsehen geworden oder steckt noch mehr dahinter?‘"

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