Philipp Lahm: "Die Mannschaft platzt vor Begabung"

Größter Erfolg: Philipp Lahm (mi.) beendete mit dem WM-Titel seine Karriere im Nationalteam.
Der deutsche Ex-Teamkapitän im Gespräch über Stärke, Reife und seinen Rücktritt.

Philipp Lahm trat am Gipfel seiner Karriere als Weltmeister aus dem Nationalteam zurück. Dem Magazin FIFA Weekly gab der 30-jährige Bayern-Spieler danach ein ausführliches Interview.

Da sind vier Kapitäne, die in Deutschland fast jedes Kind kennt: Walter, Beckenbauer, Matthäus, Lahm. Die Welt verneigt sich vor Ihnen. Und jetzt folgt der Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Wie fühlt man sich als lebende Legende?
Philipp Lahm:
Na ja, so weit ist es sicher noch nicht, aber es ist schön, in dieser Reihe zu stehen.

2006 sprach die Welt vom „Sommermärchen“, vier Jahre später zeigte die WM in Südafrika bereits ein offenes, optimistisches Deutschland. Nun titelt ein deutsches Nachrichtenmagazin: „Wir sind wieder ... wer?“. Wie hat der Fußball Deutschland verändert?
Ich weiß nicht, ob jetzt das Land den Fußball verändert hat oder der Fußball tatsächlich das Land. Ich denke, das geht Hand in Hand.

Die Jahre 1954, 1974, 1990 markieren Wendepunkte der deutschen Nachkriegsgeschichte. Wofür steht 2014?
Wenn ich stellvertretend für das Jahr 2014 unsere Mannschaft hernehmen soll, dann würde ich sagen, es steht für Stabilität, Leistungsbereitschaft und Gemeinschaftssinn. Die Mannschaft platzt vor Begabung, die Mischung ist gut, es drängen neue Talente nach.

Die Welt akzeptiert die Deutschen nicht nur, sondern liebt sie neuerdings. Wie begegnet Ihnen diese globale Zuneigung?
Ich denke, dass es Respekt und Anerkennung sind, die meiner Mannschaft und mir entgegengebracht werden. Diese Zuneigung basiert auf unserer Leistung und dem Fair Play, die wir zeigten.

Nach zehn Jahren Vorbereitung am Ziel: Sie haben nicht nur den WM-Titel gewonnen, Sie stehen exemplarisch für eine neue Generation von Spielern – die Generation Lahm. Was macht diesen progressiven Spielertypus aus?
Wir haben sicher davon profitiert, dass in Deutschland in den vergangenen 10 bis 15 Jahren in die Nachwuchsarbeit stark investiert worden ist. Jeder Bundesligaklub hat ein Nachwuchsleistungszentrum, das Training ist intensiver und professioneller geworden und es gibt hauptamtliche Trainer mit nachgewiesener Qualifikation. In jeder Generation hat es in Deutschland gute Fußballer gegeben, aber in den letzten Jahren haben wir auch taktisch aufgeholt. Der Erfolg bei der WM ist ein Erfolg der Strukturen, die der Deutsche Fußball-Bund gemeinsam mit den Vereinen umgesetzt hat.

Trainer-Messias Pep Guardiola hat Sie als den intelligentesten Spieler, den er je trainieren durfte, bezeichnet. Kann Intelligenz Tore schießen? Und sind sie de facto cleverer als die anderen?
Das weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es eine Freude ist, sich mit Pep Guardiola so präzise über Fußball zu unterhalten. Das ist einmalig.

In einem Magazin stand: „Sein ruhiges, konsequentes Spiel beruht auf höchster technischer Verlässlichkeit und unbestreitbar genialem Spielverständnis.“ Würden Sie dieser Analyse zustimmen oder widersprechen?
Da möchte ich nicht widersprechen und auch nichts beifügen. Ich bedanke mich für solch eine Überhöhung meiner Fähigkeiten.

Der englische Observer adelte Sie letzte Woche als „quiet leader standing on the brink of greatness“ und stellte Sie auf eine Stufe mit Lionel Messi. Wieso brauchte die Öffentlichkeit so lange, um Ihr Potenzial zu erkennen?
Ich habe im Laufe meiner Karriere immer Trainer gehabt, die mich geschätzt und unterstützt haben, und ich habe auch das Gefühl, dass die Fans, die Art und Weise, wie ich Fußball spiele, mögen. Ich denke, ich bekomme sehr viel Anerkennung.

„Der macht einfach keine Fehler“, so beschrieb Sie die Fachwelt in den Wochen während der WM. Letztes Jahr hatten Sie im Meisterschaftsspiel gegen Hertha BSC Berlin 100 Prozent Passgenauigkeit, 133 angekommene Pässe. Wie kann es so etwas geben?
Das kommt daher, dass ich mich auf dem Platz wohlfühle. Und das gelingt nur, wenn das Verständnis zwischen Mannschaft und Trainer passt.

Verraten Sie uns Ihre Schwächen, wo können Sie noch „perfekter“ werden?
Ich kann Ihnen verraten, dass ich als linker Verteidiger bei scharfen Hereingaben, wenn ich dann mit links abwehren musste, so meine Schwierigkeiten hatte. Daher spiele ich ja jetzt auch nicht mehr als linker Verteidiger. Und was meine Schwächen als Rechtsverteidiger und defensiver Mittelfeldspieler betrifft, werde ich sicher keine Hinweise geben. Das ist die Aufgabe meiner Gegner, dies herauszufinden. (schmunzelt)

Das Einzige, was man sich gelegentlich wünschen würde, wäre ein Tor. Wieso schießen Sie so selten aufs Tor?
Na ja, als defensiver Mittelfeldspieler und Außenverteidiger ist man eher Wegbereiter für Tore als Torjäger. Das liegt an der Position, und in dieser Rolle fühle ich mich auch am wohlsten, denn ich war noch nie ein Vollstrecker.

Sie haben einmal gesagt: „Ich war immer einer der Jüngsten. Ich erinnere mich an Finalspiele, in denen ich mich auswechseln ließ, weil ich mit den Gegenspielern, von denen viele fast ein Jahr älter waren als ich, körperlich nicht mithalten konnte. Aber ein Jahr später hatte ich diese Defizite ausgeglichen.“ Wie hart haben Sie an sich gearbeitet, um Weltmeister zu werden?
Ich bin sicher diszipliniert, aber ich denke auch, dass Fußball auf Talent und Persönlichkeit basiert und das ist ein Geschenk, das einem die Eltern in die Wiege gelegt haben.

Sie haben das Spielsystem des FC Bayern über die Jahre stark mitgeprägt. Wie viel Lahm steckt eigentlich in Löws Deutschland?
Eine Mannschaft funktioniert nur, wenn ein Trainer eine klare Vorstellung hat und diese Vorstellung dann gemeinsam mit dem Team umsetzt. Dazu gehören Spieler, die auch in der Lage sind, die Vorgaben umzusetzen, beziehungsweise auch Korrekturen vorzunehmen, und dies funktioniert nur im gegenseitigen Austausch. Das beste System funktioniert nur, wenn es ständig weiterentwickelt wird, wenn es locker genug ist, um Individualisten nicht zu behindern, aber streng genug, um der Mannschaft ein gemeinsames Denken plausibel zu machen.

2011 schrieben Sie in Ihrer Biographie „Der feine Unterschied“: „Erfolg ist eine Frage der Reife ... Ob wir in Polen und der Ukraine oder in Brasilien einen Titel holen können, wird sich an der Frage entscheiden, ob wir die nötige Reife mitbringen. Ich persönlich arbeite schon an dieser Reife ...“ Wie reif sind Sie heute – als Mensch und als Spieler?
Als Spieler gibt es zwar immer etwas zu verbessern, aber ich denke schon, dass ich jetzt aufgrund meiner Erfahrung und der Qualität meiner Entscheidungen auf dem Höhepunkt bin. Als Menschen betrachtet sehe ich mich immer noch als einen jungen Menschen, der mit seinen Eltern, der Familie, Freunden und Bekannten Vorbilder hat, an denen er sich immer noch ein Stück weit orientieren kann.

Sie sagen: Reife bedeutet, jede Chance zu nutzen, die sich bietet. Wie darf man sich diese These im Alltag vorstellen?
Das habe ich auf mein Fußballerleben bezogen. Es ist eine Qualität, die man nicht anhand eines speziellen Beispiels beschreiben kann, denn auch erfahrene, zielorientierte, sogenannte reife Mannschaften vergeben Torchancen und benötigen immer auch ein Quäntchen Glück, aber sie haben auch einen unheimlichen Glauben an die eigene Stärke. Und dieser Glaube an die eigene Stärke muss über Jahre reifen.

Gab es in Brasilien einen Moment, in dem Sie an der eigenen beziehungsweise an der Reife der Mannschaft gezweifelt haben?
Nein, während eines solchen Turniers muss der Glauben an sich und an die Stärke der Mannschaft vorangetrieben werden. Für Zweifel bleibt da kein Platz.

Wie lange ist der Entschluss in Ihnen gereift, nach der WM zurückzutreten? Für die Fußballwelt war das eine Riesenüberraschung. Wussten Sie schon vor der WM, dass Brasilien Ihr letzter großer Auftritt sein wird?
Ja, im Laufe der letzten Saison ist der Entschluss in mir gereift, nach der WM in Brasilien Schluss zu machen.

Sie haben sehr früh Verantwortung übernommen und Einfluss geltend gemacht. Legendär ist Ihre Kritik an der Bayern-Führung im November 2009, für die Sie sogar eine Buße bezahlen mussten. Was macht Ihnen mehr Spaß – Macht auszuüben oder Verantwortung zu übernehmen?
Weder noch. Mich treibt eine Art Pflichtbewusstsein an, die Dinge gut zu machen. Dabei bleibt es nicht aus, sich zu positionieren, zu handeln und Entscheidungen zu treffen. Jeder, der in der Verantwortung steht, hat dies schon erlebt.

Die Kapitänsbinde war Ihnen immer wichtig. In einer Firma wären Sie heute vermutlich CEO. Was ist Ihnen wichtig an der Führungsrolle? Und welche Tugenden zeichnen einen modernen Manager aus?
Wichtig ist für mich, dass man sich einbringt und dass man einen Beitrag zum Gelingen beisteuert. Wenn einem dies kontinuierlich gelingt, dann hat man eine Vorbildfunktion, beeinflusst die Mannschaft, den Trainer und den Verein. Das betrachte ich, wenn Sie so wollen, als modern.

Nach außen gelten Sie als ein Muster an Höflichkeit und Disziplin. Sind Sie konfliktscheu?
Ich habe die Einstellung, dass man Konflikte, die niemanden weiterbringen, vermeiden sollte. Dies erfordert Disziplin. Aber ich habe nie Schwierigkeiten gehabt, meinen Standpunkt klar zu formulieren und nie ein Problem damit, Kompromisse einzugehen. Weil ich nicht glaube, dass es den einen Königsweg gibt, sondern dass man sich immer aufeinander zubewegen muss.

Ihre Verantwortung endet nicht an der Seitenlinie. Sie sind über den Sport hinaus in vielerlei humanitären Bereichen engagiert, haben eine eigene Stiftung. Wieso machen Sie das?
Weil ich persönlich auch viel Unterstützung erhalten habe, von meiner Familie und von meinem Arbeitgeber, dem FC Bayern. Daher ist es mir eine Freude, wenn ich mich engagieren und davon etwas zurückgeben kann.

Sie haben zu vielerlei gesellschaftlichen Themen Stellung bezogen, zu einem potenziellen Outing von schwulen Fußballern etwa. Zu den politischen Verhältnissen in der Ukraine. Wie wichtig ist Ihnen diese moralische Verantwortung?
Ich bin Fußballer und deshalb ist es mir immer wichtig, wie ich auf dem Fußballplatz wahrgenommen werde. Wenn das Auftreten auf dem Platz stimmt, dann kann man auch ab und an zu gesellschaftlichen Themen Stellung beziehen.

Was nehmen Sie aus Brasilien mit? Und sagen Sie jetzt nicht den Pokal.
Die mitreißende Begeisterung der Menschen für Fußball.

Was war – nach dem WM-Titel – der zweitschönste Moment in den zehn Jahren im Nationalteam?
Mein erstes Länderspiel, die Nominierung dafür und das erste Mal auf dem Platz zu stehen und die deutsche Hymne zu hören. Für sein Land zu spielen, ist, was sich ein junger Sportler wünscht und wovon man als Bub träumt.

Im ersten Interview in Rio haben Sie auf die Frage, wie Sie den WM-Titel einordnen, geschmunzelt: „Irgendwo mittendrin!“ Steht diese Antwort für die neue Leichtigkeit? Oder war das bereits die Replik einer Persönlichkeit, die alles erreicht hat und niemandem mehr etwas beweisen muss?
Ja, das kann man so sehen. Wir sind gerade Weltmeister geworden, da fällt es einem leicht, zu scherzen.

Warum haben Sie gerade jetzt Ihren Rücktritt erklärt? Hätte Sie der fehlende EM-Titel nicht noch gereizt?
Ich bin glücklich und dankbar, dass mein Karriereende in der Nationalmannschaft mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Brasilien zusammenfällt. Für mich ist jetzt einfach der richtige Zeitpunkt, um aufzuhören.

Sie haben die von Ihnen vor drei Jahren selbst definierten Ziele – Champions League mit dem FC Bayern München, Weltmeistertitel mit Deutschland – erreicht. Was kommt jetzt noch?
Das weiß ich noch nicht. Ich bin gerade einmal 30. Ich mache jetzt mal Urlaub. Und danach freue ich mich auf den FC Bayern, denn ich habe immer noch großen Spaß am Fußballspielen.

Philipp Lahm: "Die Mannschaft platzt vor Begabung"
Der Interviewer Bernd Fisa ist Kommunikationsberater von FIFA-Präsident Sepp Blatter und war in den 90er-Jahren Sportredakteur beim KURIER.

Philipp Lahm wurde am 11. November 1983 in München geboren. Seit 2010 ist der 30-Jährige mit seiner langjährigen Freundin Claudia verheiratet, 2012 wurde ein gemeinsamer Sohn geboren. Schon 1995 kam der Defensivspieler zum FC Bayern. Bei den Amateuren spielte er mit dem heutigen Rapid-Kapitän Steffen Hofmann und wurde den Hütteldorfern auch für eine Leihe (vergeblich) angeboten. Von 2003 – 2005 wurde Lahm nach Stuttgart ausgeliehen. Im November 2005 wurde er in München als Verteidiger zum Stammspieler und verlor diesen Status nie mehr.

Seit 2011 ist der Champions-League-Sieger Kapitän der Bayern. Von 2010 bis zum Rücktritt nach dem WM-Titel 2014 war Lahm auch Kapitän der Nationalmannschaft.

Kommentare