Budapest feiert in Abrisshäusern

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Auf nach Budapest: Die Party steigt jetzt in Ruinenlokalen
Budapest feiert in Abrisshäusern
Michael Horowitz Reise Budapest wo16-2016

Cool. Geil. Hip. Urig. Im Netz gibt es einen neuen Geheimtipp für den ultimativen Weekend-Trip. Auf nach Budapest: Im Underground-Ambiente der Ruinenkneipen lässt man sich treiben. Seit Jahren sind die Lokale in schäbigen, ehemaligen Abriss-Häusern das Ziel junger Touristen aus ganz Europa. Auch der alternative australische Reiseführer Lonely Planet hat längst die coolen Hotspots des Budapester Nachtlebens erkannt und Szimpla Kert, das spektakulärste Ruinenlokal, zu einer der drei besten Bars der Welt gekürt. Und auch CNN-Travel schwärmt: One of the most lively and stylish places.

Vier Freunde, die ihr Studium mehr oder weniger abgebrochen hatten, suchten vor rund 15 Jahren einen Platz, an dem man sich treffen und Musik hören kann. Laut und ungestört. Gábor Bertenyi, Márk Gauder, Attila Kis und Ábel Zsendovits schnorrten sich von Freunden und Familie Geld zusammen, jeder kam auf eine Million Forint. Mit den vier Millionen, knapp 13.500 Euro, kauften sie ein verlassenes, weitläufiges Abbruchhaus mit Innenhof mitten im Zentrum des ehemaligen jüdischen Viertels von Budapest, in der Kazinsky-Straße. Eine ehemalige Kachelofenfabrik des 19. Jahrhunderts. In den 1950er-Jahren verstaatlichten die Kommunisten das Gebäude, um hier Schulmöbel produzieren zu lassen. Nach der Wende stand das Haus lange leer, immer wieder drohte der Abriss. Bis Ábel, Attila, Gábor und Márk das Objekt, das keiner wollte, kauften, nicht nur als ihren privaten Treffpunkt nutzten, sondern die Ruine bald mit viel Fantasie zu einem Kultzentrum Europas verwandelten. Ohne Werbung, ohne Marketing – voller Skepsis der Behörden.

Budapest feiert in Abrisshäusern
Michael Horowitz Reise Budapest wo16-2016

Inzwischen hat man den touristischen Magneten erkannt, das Szimpla Kert ist – auch für betagtere Budapest-Besucher – seit Jahren ein skurriles Sightseeing-Highlight. Und man hat die fantasievoll gestaltete ehemalige Ruine unter Denkmalschutz gestellt. Ein seltsam heruntergekommenes, ein seltsam anziehendes, ein seltsam durchdachtes Durchhaus: Trash als Manifest. Ein Kunstwerk an Schäbigkeit. Ein Dschungel diffuser Erlebnisse. Mit einzigartiger Lebendigkeit und kultigem Image.

In 17 Straßen rund um das Szimpla Kert hat sich während der letzten Jahre ein gigantischer Szene-Treff entwickelt. Mit mehr als 420 Bars, Cafés, Restaurants – und vor allem Ruinenkneipen. An deren Wänden man immer wieder neue fantasievolle Graffiti-Details erkennt. Solange man nüchtern ist. Prost Budapest. Jeden Abend lassen sich hier rund 20.000 Menschen einfach treiben. Party pur. Budapest ist durch die pulsierende Lokalszene zur Hauptstadt der stag nights, der Junggesellen-Abschiede, geworden. Auch Carlo Ponti jr., der ältere Sohn Sophia Lorens, hat hier – beginnend im Szimpla kert – mit 90 Freunden ausgiebig gefeiert, bevor er am nächsten Morgen in der ehrwürdigen Sankt-Stephans-Basilika die ungarische Violinistin Andrea Meszaros heiratete.

Die schrillen, lauten Ruinenlokale wurden von der Budapester Bevölkerung längst akzeptiert. Merkwürdig modern sind die Menschen in der ungarischen Donaumetropole für den Theologen Friedrich Naumann. In einer Stadt, die immer in Bewegung bleibt. Tatsächlich gibt es eine erstaunliche Bereitschaft, sich immer wieder auf Neues einzulassen, durch die Geschichte von Budapest. Auch voller Unruhen und politischer Extreme. Ungarn hat sich immer wieder erholt, hat Faschismus und Kommunismus überlebt. Doch heute regiert Victor Orbán.

In Budapest gab es schon immer Intrigen um Leben und Tod, mörderischen Verrat und politisches Heldentum, unsterbliche Liebe und Sex-Skandale. In Budapest gehört eine pathetische Grundstimmung zum Alltag. Die „New York Times“ spricht von Hollywood an der Donau, in keiner anderen europäischen Stadt werden so viele internationale Filme produziert.

Meist auch mit einem der Ruinenlokale als Mittelpunkt. Alles wirkt wie ein surreales Dada-Gesamtkunstwerk. Mit Kompanien von Kerzen, Graffiti-beschmierten Wänden, Lichterketten und Kristall-Lustern, abgewetzten Sofas, die bei uns im Sperrmüll landen, Plüschtieren als Lampen, an die Wand genagelten Barbie-Puppen, mit vom Plafond herabhängenden Fahrrädern. Im Budapester Reich der Fantasie gibt es keine Grenzen. Und sogar Pflanzen überleben hier. Im Keller schneidert eine rothaarige Designerin aus Second-Hand-Outfits Third-Hand-Outfits. Daneben wird auf alten Parkbänken gratis Ungarisch unterrichtet. Oder man zieht sich in die Bibliothek zurück, in der man von den DJ-Klängen kaum etwas hört. Es gibt Shisha-Lounges und Jam Sessions, BBQ-Grill-Bar und Bäckerei.

Die höhlenartigen Spelunken mit einer Art post-sowjetischen Mystik als blühende, kosmopolitische Untergrund-Szene. Budapest als das neue Berlin. Längst haben die findigen vier Freunde ihr Ruinen-Bar-Konzept auch nach Berlin transferiert: In der Kreuzberger Revaler Straße am Eingang des Szimpla kert-Musiksalons, das früher ein Badehaus für Arbeiter des Reichsbahnausbesserungswerks war, thront eine riesige, goldene Badewanne. Aus Budapest.

In den ungarischen Hinterhofbars trinkt man billig wie kaum wo in Europa Bier und Unicum-Kräuterschnaps. Im abgesägten Trabant, auf einem Turnsaal-Pferd, in einer Badewanne liegend oder auf einer bemalten Klomuschel sitzend. Im letzten Raum ganz hinten werden vom 35-mm-Zelluloidrollen Filmklassiker vorgeführt, auch Songs von David Bowie, Bob Dylan und Frank Zappa erinnern an alte Zeiten.

Und wenn Pattie Smith gegen Morgengrauen People have the power grölt, sind fast alle schon nach Hause oder ins Hotel gewankt. Die Möchtegern-Literaten und iPod-bewaffneten Broker, die betrunkenen Touristen und erschöpften Budapester. Nur die ungarische Schönheit mit dem langen schwarzen Zopf und ihre neue Bekanntschaft aus Graz verharren noch unter den Graffiti und expressionistischen Bildern. Um sich im Zwielicht der milden Morgensonne und der alten Stehlampe ewige Liebe zu schwören.

Das Kultlokal Szimpla kert ist die Mutter aller Budapester Hinterhof-Lokale. Kazinczystraße 17.
www.szimpla.hu

Budapest feiert in Abrisshäusern
Michael Horowitz Reise Budapest wo16-2016

Das Ellátó kert lebt von seinem lateinamerikanischen Flair. Mit Klavier, auf dem einige Tasten fehlen und Billard mit schiefen Queues. Kazinczystraße 48.

Im Super 8 sitzt man auf Flugzeugsitzen und Küchensesseln. An den Wänden Bilder von Mutter Teresa und Nordkoreas Kim Il-Sung. Köfaragóstraße 8.
www.super8.hu

Der Name Vittula ist finnisch, die Übersetzung wäre ziemlich vulgär. Die kleinste Punkbar von Budapest. Gute Musik und raue Sitten. Kertészstraße 4.

Im Csendem Létterem findet
man kaum Touristen. Hier trifft sich die junge Budapester Szene. Ferenczy Istvánstraße 5.

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