Stichwahl: Werden 30.000 Wähler rechtswidrig ausgeschlossen?

Muss VfGH-Präsident Holzinger wieder entscheiden?
Verfassungsjuristen haben bereits ein neues Problem ausgemacht, das zu einer neuerlichen Wahlanfechtung führen könnte.

Ein bisschen mehr als zwei Monate sind es noch, bis 6.382.507 Wahlberechtigte ein drittes Mal zur Urne schreiten, um einen neuen Bundespräsidenten zu wählen. Und es ist vielleicht noch immer nicht das letzte Mal. Denn Verfassungsrechtler haben bereits eine neue Lücke entdeckt, mittels derer die Wahl, sollte sie knapp ausgehen, ein weiteres Mal angefochten werden könnte.

Das Problem ist genau diese Zahl: 6.382.507. Die Wählerevidenz wurde vor dem ersten Wahlgang vom Innenministerium bestimmt; sie legt fest, wer in Österreich wahlberechtigt ist und wer nicht. Als der erste Wahlgang erwartungsgemäß kein eindeutiges Ergebnis brachte, musste die Stichwahl, dem Gesetz folgend, „am vierten Sonntag nach dem ersten Wahlgang“ stattfinden.

30.000 Menschen mehr dürften jetzt wählen

Das ist unter anderem deshalb so knapp angeordnet, damit sich die Wählerevidenz – und also die Zahl der Wahlberechtigten – nicht allzu stark ändert. Denn manche werden wahlberechtigt, weil sie zum Beispiel das Alter von 16 Jahren erreichen oder die Staatsbürgerschaft erhalten. Andere wiederum fallen heraus; meistens, weil sie sterben (beispielsweise könnten aber auch Wahlleiter das Wahlrecht verlieren, wenn ein Gericht befindet, dass sie sich einer Wahlmanipulation schuldig gemacht hätten). Nun ist zwischen dem ersten Wahlgang und der Wiederholung der Stichwahl weit mehr Abstand als diese vier Wochen – es ist fast ein halbes Jahr.

Im Vorjahr sind 84.000 Menschen gestorben, zwischen der Stichwahl und seiner Wiederholung vergeht fast ein halbes Jahr – also sterben statistisch in dem Zeitraum rund 34.000 Menschen, die die Staatsbürgerschaft haben. Und rund 32.000 junge Menschen, die nun 16 Jahre alt werden und wahlberechtigt wären, werden von der Wahl ausgeschlossen. Und das könnte eine weitere Wahlanfechtung zur Folge haben. „Es widerspricht dem Grundsatz des allgemeinen und gleichen Wahlrechts“, sagt Alfred Noll, wenn mehr als 30.000 Menschen von der Wahl ausgeschlossen werden. Dass das problematisch sein könnte, sagt auch Verfassungsrechtler Theo Öhlinger: „Der neue Wahltermin wurde auch sehr spät angesetzt“, sagt er. „Es ist nicht auszuschließen, dass ein Kandidat aufgrund dessen eine Anfechtung versucht“ – auch wenn er die Chance auf Erfolg nicht hoch einschätzt.

Jedenfalls würde es einem Kandidaten mehr schaden als einem anderen: Denn unter den ganz jungen Wählern und den ganz alten Wählern – also jenen, die nun nicht wählen dürfen, obwohl sie schon wahlberechtigt sind und denen, die nun verhältnismäßig am ehesten gestorben sind – hatte Alexander Van der Bellen eine Mehrheit. (Ergänzung 14:02:) Wobei der Statistiker Erich Neuwirth darauf hinweist, dass die Schwankungsbreite von fünf Prozent bei diesen Altergruppen zu groß ist, als dass die Mehrheit von Van der Bellen (54 bzw. 51 Prozent) als gesichert angesehen werden könnte.

"Völlig eindeutig" ist die Lage laut Bundeswahlleiter Stein

Im Innenministerium wird die Einschätzung, dass das zu Problemen führen könnte, nicht geteilt. Der Leiter des Bundeswahlbehörde, Robert Stein, sagt, die Lage sei „völlig eindeutig“ und im Bundespräsidentenwahlgesetz, Paragraph 20 Absatz 1 festgeschrieben: „Die dem ersten Wahlgange zugrunde gelegten Wählerverzeichnisse sind unverändert auch dem zweiten Wahlgang zugrunde zu legen.“ Und sollte diese Wahl – etwa wegen Stimmengleichheit - ebenfalls wiederholt werden müssen, gilt laut Absatz 3 des Paragraphen selbiges. Bezug genommen wird in diesem auf die vorhergehenden Paragraphen 18 und 19. Nun schreibt aber der VfGH in seinem Urteil: „Obgleich die §§ 18 und 19 BPräsWG Bestimmungen über die Anordnung eines zweiten Wahlganges enthalten, sind diese auf eine Wiederholungswahl nicht anwendbar“.

Was das jetzt bedeutet, darüber sind die Verfassungsrechtler uneins: Heinz Mayer ist der Ansicht, dass weder der VfGH noch der Innenminister dazu berechtigt gewesen wären, die Wählerevidenz zu aktualisieren. Weil das im Gesetz nicht vorgesehen ist. Was nichts daran ändert, dass auch er es sehr problematisch sieht, dass so viele Menschen von der Wahl ausgeschlossen werden – und dass das Gesetz für diesen Fall nicht vorgesorgt hat: „Das Gesetz hätte geändert werden müssen, ich kann nicht ausschließen, dass es verfassungswidrig ist“, sagt er.

"Historisch größter Rückschlag beim allgemeinen Wahlrecht"

Alfred Noll dagegen argumentiert, „dass die Wiederholungswahl wie eine neue Wahl festzusetzen ist“, und damit auch das Wählerverzeichnis aktualisiert werden müsste. Er hält es für ein Versäumnis des VfGH, das nicht angeordnet zu haben. Dieser „‘staatlich-gerichtliche Ausschluss‘ von zirka 30.000 Personen vom Wahlrecht ist der historisch größte Rückschlag beim allgemeinen Wahlrecht, den die Republik Österreich je erlebt hat“, sagt Noll.

Eine Wahlanfechtung wäre freilich nur dann möglich, wenn es wieder ganz knapp ausgeht, wenn diese 30.000 Menschen das Ergebnis drehen könnten. Dann aber könnte sie noch weitreichendere Konsequenzen haben, sollte Heinz Mayers Rechtsauffassung sich als richtig erweisen und diese gesetzliche Lücke eine Verfassungswidrigkeit darstellen: Es wurde bei der ersten Wahlanfechtung bekannt, dass die gesamte Wahl, nicht nur die Stichwahl wiederholt werden muss, wenn ein Gesetz der Verfassung widerspricht. Das wiederum könnte bedeuten, dass der nächste Bundespräsident vielleicht weder Norbert Hofer noch Alexander Van der Bellen heißt.

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