Wien nach der Wahl: "Wut braucht ein Ventil"

SPÖ-Wahlplakat in der Seestadt Aspern: Zwei von drei Wahlsprengeln wählten hier FPÖ.
Warum zieht FPÖ-Propaganda auch dort, wo keine Ausländer wohnen? Die Flüchtlingskrise greift als Antwort zu kurz.

Eine Mietwohnung mit Balkon, das Ganze im Erstbezug; der Badeteich vor der Tür; dazu Kinderspielplätze, eine eigene U-Bahnstation, und, und, und. Bei aller Zurückhaltung darf man wohl sagen: Es gibt tristere Plätze als die Donaustädter Seestadt Aspern.

Im Nordosten von Wien gelegen, gilt der für 20.000 Bürger geplante Stadtteil als das Prestigeprojekt der SPÖ.

Blaue Sprengel

Nirgendwo sonst ist die bauliche Entwicklung der Bundeshauptstadt so deutlich zu sehen. Und nirgendwo sonst sollte die Zustimmung zu den Regierenden größer sein – möchte man meinen. Bemerkenswerterweise ist das Gegenteil der Fall: Genau hier wurden zwei von drei Wahlsprengeln tiefblau.

Und nicht nur das. Auch in anderen Ecken von Wien, etwa in dem als bürgerlich geltenden Viertel unterhalb des Cobenzl, dem Sprengel 45, wählen plötzlich ganze Straßenzüge freiheitlich. 60 Prozent der Anrainer haben zumindest Matura, es wird gut verdient und schön gewohnt, viele Villen, kein einziger Gemeindebau – und auch hier wählt die Mehrheit Strache, den Häupl-Gegner. Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, das wusste schon Kreisky. In Wien, aber auch im Bund, gibt das Verhalten der Wähler den Regierenden dennoch zu denken.

Wie kommt es, dass die Seestädter oder wohl situierte Bürger in Döbling und Hietzing in einzelnen Sprengeln mehrheitlich blau wählen; dass die FPÖ die Regierungspartei bisweilen mit 43 zu 34 Prozent abhängt?

Geht es bloß um Angst? Geht es um mehr?

Modernisierungsverlierer

Wer Fragen wie diese beantworten will, der muss sich an Sozialwissenschaftler wie Roland Verwiebe halten. Der gebürtige Deutsche lehrt an der Uni Wien und beschäftigt sich seit Längerem mit Fragen der Lebensqualität.

Wien nach der Wahl: "Wut braucht ein Ventil"
Rundgang durch die Seestadt Aspern. Wien, am 01.06.2015. Mit rund 240 Hektar Fläche gehört das Areal in der Donaustadt zu den größten Stadtentwicklungsgebieten Europas.
Gefragt nach dem auffallenden Zuspruch für die FPÖ in der Bundeshauptstadt, antwortet er zunächst mit den "Modernisierungsverlierern": "Das sind die, die keine Fahrradwege, aber einen Job brauchen. Sie fühlen sich von den Politikern nicht abgeholt, heißt nicht verstanden, in der Stadt nicht mehr zu Hause", sagt Verwiebe.

Das ist die eine Gruppe der FPÖ-Sympathisanten. Die, die vornehmlich aus dem Lager der einstigen SPÖ-Wähler stammen. Stärker ist und wächst eine andere Gruppe. Von ihr kann Bernhard Heinzlmaier erzählen.

Noch vor der Landtagswahl hat sich der Sozialwissenschaftler mit den Befindlichkeiten der Wiener beschäftigt, seine These zum Wahlergebnis ist: Aus Angst vor Flüchtlingen wählen solche blau, die nahe am Prekariat leben – sie bangen um Jobs, die sie durch billige Arbeitskräfte bedroht sehen. Das Bangen ist berechtigt.

Einkommen sinken

84 Prozent der Teilzeitbeschäftigten sind laut Einkommensbericht des Rechnungshofs weiblich. Sie erhalten weniger als die Hälfte (43%) eines durchschnittlich verdienenden Vollzeitbeschäftigten. Das Einkommen jener Männer, die ohnehin am wenigsten verdienen (unterstes Dezil) hat sich laut Statistik von 1998 bis 2013 mehr als halbiert (48 Prozent). Die Verluste der einstigen Großparteien seien insbesondere der Arbeitsmarktsituation geschuldet, sagt Verwiebe.

Bei der Mehrheit der FPÖ-Wähler geht es laut Heinzlmaier nicht um Angst. Es gehe um Wut. "Die FPÖ-Wähler in der Seestadt Aspern eint mit denen in bürgerlichen Gegenden, dass sie zur adaptiv-pragmatischen Mitte gehören". Sicherheit, Anerkennung, Leistung, Anpassung: Das sind die Werte, die für sie zählen. Und sie reagieren auf Veränderungen der jüngeren Vergangenheit mit "aggressivem Konformismus".

Aggressive Konformisten

"Die neuen FPÖ-Wähler wollen keine multi-kulturelle Gesellschaft. Die Lebenssitten von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum sind für sie genauso Ausdruck einer kulturellen Un-Ordnung wie der Life Ball", sagt Heinzlmaier. Man könnte sagen: Für diese Menschen zählt das "Sich-an-Regeln-Halten".

"Die neuen FPÖ-Sympathisanten sind keine dumpfen Rassisten, sondern Konformisten. Sie denken: ‚Ich zahl’ meine Steuern, fahr’ selten zu schnell, ich fall’ nicht auf und halte mich an die Regeln – also müssen alle anderen genau das auch machen‘."

Wählen die aggressiven Konformisten aus Überzeugung freiheitlich? Heinzlmaier zweifelt daran. "Sie wählen Strache mit zugehaltener Nase. Aber sie wählen ihn." Warum? "Weil sie für ihre Wut ein Ventil brauchen."

91 % ... sind mit der Arbeit von Rot-Grün in Wien unzufrieden

90 % … plädieren für verstärkte Grenzsicherung, um die Flüchtlingsströme einzudämmen

89 % ... gehen davon aus, dass unsere Möglichkeiten, Flüchtlinge aufzunehmen, bald begrenzt sind

84 % … sind mit der Arbeit der Bundesregierung und der Koalition in Wien unzufrieden

77 % … halten den Bau von Grenzzäunen wie in Ungarn für den richtigen Weg

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