"Warum Gutmensch, Herr Kanzler?"

Helmut Brandstätter mit Kanzler Faymann und Vizekanzler Mitterlehner.
Die KURIER-Leser forderten die Regierungsspitze bei einer Debatte über Wirtschaft und Flüchtlinge.

Der ratlose Vater steht zwischen den Reihen. Er trägt Anzug und Krawatte, und als er den Regierungschef adressiert, hören ihm Hunderte Menschen zu: "Mein Sohn ist 18 und könnte ein Studium beginnen. Das Problem ist nur: Heute bekommt man mit einem Uni-Abschluss keinen Job, sondern oft nur ein Praktikum. Ohne Fix-Anstellung gibt es keinen Kredit, man kann sich keine Wohnung kaufen, kann keine Familie gründen. Was soll ich meinem Sohn raten, Herr Bundeskanzler?"

Was wird aus dem Land, was wird aus den Kindern? Es sind große, ernste Fragen, die die KURIER-Leser an diesem Abend ins Wiener Raiffeisen-Forum gebracht haben. Und das ist der Grund, warum sich KURIER-Chef Helmut Brandstätter nicht lange bemühen muss, zwischen Kanzler, Vizekanzler und Publikum eine Diskussion in Gang zu bekommen.

Im Wesentlichen bewegen die Menschen zwei Fragen – und sie stehen stellvertretend für die Stimmung im Land. Das eine, das ist die schwächelnde Wirtschaft, die Arbeitslosen, die Angst um den Job. Das andere: die Flüchtlingskrise – und was sie für Österreich bedeutet.

"Was haben wir von der Steuerreform, wenn die Inflation schon alles wegfrisst?" fragt ein älterer Herr. "Wie wollen Sie die Innovationen und Investitionen in der Wirtschaft vorantreiben, wenn Sie von der Gen-Technik, über das Fracking bis hin zur Atomkraft alles verbieten?", klagt ein Zweiter. Und stellvertretend für alle Mittelständler will ein Dritter ganz grundsätzlich wissen: "Wann bringen Sie die PS auf die Straße und wagen große Reformen?" Es folgt Applaus, ganz so, als seien die Zuhörer erleichtert – endlich sagt ihnen das einmal einer ins Gesicht!

Werner Faymann und Reinhold Mitterlehner kennen Situationen wie diese mittlerweile ganz gut, sie wissen, dass die Menschen oft eine Empfindung teilen: "Wir haben Ängste – und ihr befreit uns nicht davon." Wohl aus diesem Grund will Mitterlehner – er ist jetzt ganz Wirtschaftsminister – gleich zu Beginn Optimismus säen: "Es gibt eine gute Nachricht: 2016 wird sich das Wirtschaftswachstum erholen." Der ÖVP-Chef erinnert an die "mehr als fünf Milliarden Euro", die dank der Steuerreform bald "im Umlauf sein werden"; die Wirtschaft ziehe 2016 an. "Wir sind gut aufgestellt!"

Selbstkritik

Es ist ein schmaler Grad, auf dem der Kanzler und sein Stellvertreter wandern. Optimistisch ja, aber nicht realitätsfremd – das ist die Herausforderung.

Wohl deshalb sagt der Vizekanzler mehrmals: "Manche von ihnen denken sich: ,Die zwei am Podium, die reden sich die Welt schön‘ – aber so ist es nicht." Und wenn Werner Faymann vom Auslandsstudium seiner Tochter erzählt, dann antwortet er nicht nur dem fragenden Vater ("Natürlich soll ihr Sohn studieren! Bildung ist der Grundstein für einen guten Job"). Der Kanzler versucht mit dem Beispiel auch an all das zu erinnern, was die Österreicher in und an dem Land ganz grundsätzlich schätzen, wie etwa das Gesundheitssystem. "Meine Tochter hat im Ausland einen Zahnarzt gesucht. Das war eine Herausforderung. Bei uns geht man ganz selbstverständlich zum Arzt oder ins Spital."

Spätestens beim Flüchtlingsthema funktionieren die persönlichen Argumente nicht mehr. Denn hier, und das zeigt auch die KURIER-Veranstaltung, gehen die Meinungen quer durch die Bevölkerung auseinander.

"Wie lange wollen Sie in der EU noch den Gutmenschen spielen, Herr Bundeskanzler?", sagt ein Zuhörer. "Was tun Sie um zu verhindern, dass Flüchtlinge an der mazedonischen Grenze sterben?", fragt eine andere. An dieser Stelle macht Werner Faymann, was er seit Monaten tut: Er warnt vor jenen, die mit besonders einfachen Lösungen locken: "Wer meint, mit einem Abschotten oder irgendwelchen Zäunen sei das zu lösen, der liegt einfach falsch. Die Flüchtlingsfrage ist eine internationale Herausforderung, deshalb kann sie auch nur in der EU gelöst werden. "

Gutmensch? Damit hat der Regierungschef so gar kein Problem ("Ich will kein schlechter Mensch sein") – sehr wohl aber mit falsch verstandener Toleranz. "Ordnung", "Strenge" und "Menschlichkeit" sind die drei Schlüsselbegriffe, die er in der Integrationsdebatte besonders oft fallen lässt – ein Hölzel für den Vizekanzler: "Wir haben eine rechtsstaatliche und demokratische Kultur. Wer hier lebt, hat dies anzuerkennen." Reinhold Mitterlehner wünscht sich Klarheit bei den Werten – aber auch Ehrlichkeit von den Österreichern: "Wir können Menschenrechte nicht immer nur von anderen Ländern fordern, wir müssen sie im Ernstfall selbst leben. Und das Recht auf Asyl gehört auch dazu." Nicht alle hören das gerne, aber schließlich wird applaudiert. Nicht von allen. Aber von einer klaren Mehrheit.

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