Die Habseligkeiten von 71 Toten

Die Habseligkeiten der auf 71 Flüchtlinge, die am Donnerstag tot in einem Lkw aufgefunden wurden.
Der Traum von Freiheit endete für 71 Flüchtlinge auf der Autobahn, zusammengepfercht auf 14 Quadratmetern.

Insgesamt 71 Menschen auf rund 14 Quadratmetern. Pro Person nicht einmal so viel Platz wie eine KURIER-Doppelseite. 71 Menschen im Kühl-Lkw zusammengepfercht, vermutlich bei ein paar Grad über null. Auf Knien oder in der Hocke kauernd. Dazu Dunkelheit. 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder – darunter ein Mädchen von nicht einmal zwei Jahren und drei acht- bis zehnjährige Buben. Die Toten von Parndorf können niemanden unbeteiligt lassen.

Nach derzeit wahrscheinlichster Theorie sind die 71 Menschen an Sauerstoffmangel gestorben. Die "grausigste Vorstellung", selbst für eine an Leichen gewöhnte Gerichtsmedizinerin, ist aber: "Dass sie nicht alle zur gleichen Zeit gestorben sind. Im Dunklen müssen sie gemerkt haben, wie Leute neben ihnen sterben. Zum Umfallen ist kein Platz, aber sie sacken zusammen", sagt Universitätsprofessorin Edith Tutsch-Bauer im Gespräch mit dem KURIER.

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Das Einzige, vielleicht ein wenig tröstliche an der Vorstellung ist die medizinische Erkenntnis, dass die Flüchtlinge im Lkw beim Sterben wahrscheinlich nicht gelitten haben. Zumindest körperlich. Die Leiterin der Salzburger Gerichtsmedizin, die Tsunami-Opfer in Thailand und die 155 Toten der Seilbahn-Katastrophe in Kaprun identifiziert hat, kann das Bild des qualvollen Erstickens unter Sauerstoffmangel aus der Entfernung etwas relativieren: "Wenn man frei abatmen kann, fällt der Erstickungsvorgang weg. Wie in der Garage mit den Abgasen vom Auto oder im Weinkeller. Man merkt gar nicht, dass man in Gefahr ist." Laut Tutsch-Bauer wird einem schwindlig, "ob man noch Kopfschmerzen entwickeln kann, ist fraglich", dann wird man ohnmächtig, dann tritt der Tod ein.

Freilich: Psychisch haben die Flüchtlinge sehr wohl gelitten, "der Stress im engen Laster, hoher Adrenalinausstoß, da überlagert sich alles."

Schlepper in Haft

Am Freitag wurden in Ungarn im Zuge dieses Kriminalfalles 20 Personen verhört und vier mutmaßliche Schlepper verhaftet. Es soll sich dabei laut Polizei um die beiden Fahrer sowie den Zulassungsbesitzer des Kühl-Lkw handeln.

"Das sind die beiden untersten Ebenen einer Organisation", sagt Burgenlands Landespolizeidirektor Hans-Peter Doskozil. Eine verschachtelte Firma soll im Hintergrund stehen. Ob und wann das Quartett – allesamt offenbar Bulgaren – nach Österreich ausgeliefert wird, ist momentan noch unklar.

"Bulgarien hat – wie auch Rumänien – ein Riesen-Potenzial für Schlepperorganisationen", sagt Oberst Gerald Tatzgern, Österreichs ranghöchster Bekämpfer des Menschenhandels im Innenministerium. "Es gibt viele arme Leute und wenig Perspektiven. Dazu arbeiten dort gut organisierte Gruppen".

Die angeheuertem Lenker sind sich meist des Wahnsinns gar nicht bewusst, dem sie sich ausliefern und denken nur an das schnelle Geld. Sie verdienen vielleicht 500 oder 1000 Euro für eine Teilstrecke, und sie erwartet im Gegenzug eine Haftstrafe von drei Jahren. So eine fasste etwa am Freitag ein Bulgare im Landesgericht Korneuburg aus, der 54 Menschen in einem VW-Bus nach Österreich schleppte. Sie hatten gerade einmal acht Quadratmeter Platz.

700.000 Euro "wert"

Die Habseligkeiten von 71 Toten
Dabei ist die "Ware Mensch", die die Schlepper transportieren, enorm viel wert. Die 71 Flüchtlinge dürften nach aktuellem Kurs insgesamt rund 700.000 Euro für ihren Transport bezahlt haben, schätzt Tatzgern. Dazwischen bekommen die Transporteure nur – je nach Strecke – einen Bruchteil ausbezahlt.

Laut dem Leiter der Staatsanwaltschaft Eisenstadt, Johann Fuchs, wird im aktuellen Fall von Parndorf wegen Schlepperei, versuchter Gemeingefährdung mit Todesfolge bis zu Mord ermittelt. Bei Letzterem droht lebenslange Haft, egal, ob ein Mensch oder 71 Menschen ermordet wurden. Bei diesem Delikt ist kein Vorsatz notwendig, es reicht, wenn der Tod der Flüchtlinge billigend in Kauf genommen wird. Darüber entscheiden wird auch, ob es im Lkw irgendeine Luftzirkulation oder gar keinen Sauerstoff gegeben hat.

Syrischer Pass

Bei einem Toten wurde bei der stundenlangen Untersuchung in Nickelsdorf ein syrischer Reisepass sichergestellt. Deshalb gehen die Behörden davon aus, dass es sich zumindest teilweise um syrische Flüchtlinge handelt. Allerdings haben die verhafteten Schlepper auch einen libanesischen bzw. afghanischen Hintergrund, weshalb ein Mix aus verschiedenen Nationalitäten derzeit wahrscheinlich ist.

Bei der extra eingerichteten Hotline des Landeskriminalamtes Burgenland (059133/103 333) gingen jedenfalls zahlreiche besorgte Anrufe von anderen Flüchtlingen aus ganz Europa ein. "Diese Tragödie sollte eine Mahnung sein. Betroffenheit und Mitgefühl ist zu wenig. Wir müssen handeln", sagte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner.

71 Obduktionen

Wie genau die 71 Menschen in dem Kühl-Lkw gestorben sind und wann, wird erst die gerichtsmedizinische Untersuchung ergeben. Bis zu einem endgültigen Ergebnis wird es Wochen, wenn nicht gar Monate dauern.

Die Toten lagen wahrscheinlich bereits eineinhalb bis zwei Tage im versperrten (und nicht mehr gekühlten) Laderaum des auf der Ostautobahn abgestellten Lastautos. Der Verwesungsprozess hatte schon eingesetzt. Dafür ist die Temperatur entscheidend, sagt Gerichtsmedizinerin Tusch-Bauer: "Wenn jemand in der Sauna stirbt, setzt eine Leichenveränderung binnen zwei bis drei Stunden ein. Die Körper werden aufgedunsen, auch markante Gesichtszüge verstreichen. Über die Gesichtsform ist eine Identifizierung dann nicht mehr möglich."

Diese muss über Zahnstatus, DNA oder Fingerprints erfolgen, so fern man Vergleichsmaterial hat. "Beim Tsunami in Thailand ist man in die Wohnungen der Opfer gegangen und hat Vergleichsmaterial besorgt." Über den Zahnstatus könne man zumindest über das Alter Aussagen machen. Über die DNA sei eine Zuordnung zu Angehörigen möglich. Man könne also zumindest sagen, ob Familien unter den Toten sind.

Nach Wien

Mit der Aufarbeitung der Flüchtlingstragödie auf der Ostautobahn sind die Kollegen der Wiener Gerichtsmedizin befasst (die keine Kommentare gegenüber Medien abgeben wollen). Das sind neben dem Leiter, Daniele Risser, Nikolaus Klupp und Christian Reiter, der aber bis Montag auf Urlaub ist.

"Bei Kaprun hatten wir drei Teams, es wurde an drei Tischen gleichzeitig obduziert", sagt Tutsch-Bauer: "Aber in Wien obduziert ja immer einer allein, was wir ablehnen." Zu dritt könne man 15 Obduktionen am Tag schaffen und die Arbeit innerhalb einer Woche erledigt haben. Noch hat Tutsch-Bauer kein Ruf aus der Bundeshauptstadt erreicht, aber wenn Hilfe benötigt werde, stehe sie natürlich zur Verfügung . "Da muss man sich unterordnen, das ist kein Problem für mich."

Und was passiert nach der Obduktion mit den Toten? Man müsse von Anfang an eine Bergungsnummer vergeben und durchgehend beibehalten bis in den Sarg. "In Thailand ist das schief gelaufen." Da wurden verschiedene Nummern vergeben, später wusste man nicht mehr, wer eigentlich tatsächlich in welchem Grab liegt. Jetzt sind nur noch ein paar Plastiksackerln mit den Habseligkeiten der Flüchtlinge übrig. Zumindest sie haben schon Nummernschilder verpasst bekommen.

Neue Aufgriffe

Inzwischen geht das Geschäft mit der Ware Mensch munter weiter. Freitagfrüh liefen auf der Ostautobahn bei der Abfahrt Mönchshof rund 50 Flüchtlinge über die Fahrbahn. Der jüngste war nicht einmal zwei Jahre alt. Und in Wien hat die Polizei innerhalb von nur 16 Stunden gleich sieben Schlepper bei verschiedenen Amtshandlungen erwischt. Einer wurde erst nach Abgabe von Schreckschüssen festgenommen.

Wohin mit der Wut, mit der Trauer, mit der Ohnmacht angesichts der entsetzlichen Tragödie auf der burgenländischen A4? Wie groß die Hilfsbereitschaft der österreichischen Bevölkerung ist, konnte man in den vergangenen Wochen nicht nur in Traiskirchen erfahren, wo besorgte Bürger jeden Tag Kleidung, Hygieneartikel, Essen und Wasser brachten, sondern auch in den vielen über ganz Österreich verteilten neuen Unterkünften der Asylwerber.

Die Zivilgesellschaft ruft auch zu zahlreichen Gedenkveranstaltungen und Großdemonstrationen auf. Der KURIER gibt einen Überblick über die geplanten Veranstaltungen.

Am kommenden Montag, den 31. August, ruft eine private Initiative, die " die jetzige Situation in Traiskirchen nicht mehr länger schweigend akzeptieren wollte", zu einer Demo in Wien auf. Um 18 Uhr startet der Demonstrationszug unter dem Titel "Mensch sein in Österreich" am Christian-Broda-Platz (beim Westbahnhof) in Richtung Museumsquartier.

Auch die katholische Kirche will ein Zeichen setzen: Der Wiener Erzbischof Kardinal Christoph Schönborn wird am Montag um 19 Uhr einen Gedenkgottesdienst für die Verstorbenen und alle Flüchtlinge im Stephansdom halten. Er bietet alle Kirchen des Landes, zu diesem Zeitpunkt aus Respekt und Mitgefühl mit den Opfern die Glocken zu läuten.

Am 5. September ruft eine deutsche Facebook-Initiative mit einem österreichischen Ableger ab 21 Uhr auf, eine "Kerze im Fenster gegen Rassismus" anzuzünden. Auslöser waren die rassistischen Ausschreitungen in Deutschland: "Wir sagen Stopp! Und wir werden mit einer Kerze im Fenster ein Zeichen gegen Rechts setzen!", so die Initiatoren.

Am 25. September ruft das Flüchtlingshilfswerk der UNO UNHCR bereits zum vierten Mal zum "Langen Tag der Flucht". Österreichweit laden Veranstaltungen rund um die Themen Flucht und Asyl zum Mitmachen, Zuhören, Diskutieren und Feiern ein. (www.langertagderflucht.at)

Eine kürzlich gegründete österreichweite "Plattform für menschliche Asylpolitik" plant für 3. Oktober eine Großdemonstration in Wien. "Die Politik der österreichischen Bundesregierung steht im krassen Widerspruch zu der ausgesprochen solidarischen Haltung der Bevölkerung", heißt es in dem Aufruf. Die Route führt vom Westbahnhof zum Innenministerium.

Zu erwähnen sind noch die Lieder "Flüchtlinge" vom Kabarettisten Thomas Stipsits und "Schweigeminute (Traiskirchen)" von Raoul Haspel, aus deren Erlös Flüchtlingsprojekte unterstützt werden.

Zudem gibt es einen Aufruf, eMails an Facebook-Gründer Mark Zuckerberg (mark.zuckerberg@fb.com) zu schicken, um den grassierenden Rassismus zu beenden.

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