Wie aus Tätern Opfer werden

Wie aus Tätern Opfer werden
Straches Spiel mit der Rolle des Verfolgten lässt die politischen Sitten immer mehr verrohen.

Vor laufenden Fernseh-Kameras können acht Minuten und vierzig Sekunden verdammt lang sein. Insofern war Heinz-Christian Strache am vergangenen Sonntag in der ORF-Pressestunde geduldig. Acht Minuten und vierzig Sekunden musste er warten, dann endlich kam sie, die Frage, auf die seine vorbereitete Antwort passte.

Die Journalisten wollten wissen, warum sich kein namhafter Wirtschaftsexperte zur FPÖ bekennt. Der Parteichef hatte keine Lust auf Selbstreflexion und antwortete mit einer seiner Lieblingsgeschichten: der Story von der FPÖ als Partei der Geschnittenen. „Wir erleben, dass man Nachteile hat, wenn man sich für uns positioniert. Man wird gemobbt, diffamiert.“

Jagdgesellschaft

Es war längst nicht das erste Mal, dass Strache das Opfer gab: Fassen Zeitungen oder TV-Sender den FPÖ-Boss härter an, klagt er über „mediale Hetze“ und „linke Jagdgesellschaft“; verfolgt die Justiz FPÖ-Politiker wegen Korruption oder Verhetzung, spricht er flugs von „Polit-Justiz“; und wer öffentlich hinterfragt, warum Strache vor wenigen Tagen die Trennung von seiner Freundin via Pressemeldung in die Welt tragen musste, anstatt sie im Privaten zu belassen, dem hält der Verlassene entgegen, „die Medien“ hätten die Privatsphäre seiner Freundin mit Füßen getreten.

Er selbst, seine Ex-Freundin, die Funktionäre: Für Strache sind sie alle Opfer.

In der Bevölkerung glaubt laut einer profil-Umfrage nur eine Minderheit an die Opfer-These: 33 Prozent der Bürger meinen, dass der FPÖ-Chef von den Medien ungerecht behandelt werde, 44 Prozent sind nicht dieser Ansicht (Rest: keine Angabe).

Was bedeutet das Opfer-Bild für Partei und Wähler? Konterkarieren die bisweilen larmoyanten Anwandlungen nicht das Macher-Image?

Auf Fragen wie diese weiß Walter Ötsch Antwort. Der Kulturwissenschaftler und FPÖ-Beobachter („Haider light“) nahm Jörg Haiders Aufstieg und Fall schon in den 90er-Jahren vorweg. Jetzt sitzt der NLP-Experte in einem Kaffeehaus und streckt die Arme von sich. „Wir haben zwei Pole, um die es in der Bedrohungswelt der Strache-FPÖ geht.“ Ötschs linke Hand ist jetzt tief unter der Tischkante. „Das sind wir, die Anständigen, die Benachteiligten, die Opfer.“ Der Linzer streckt die Rechte über seinen Kopf. „Und das sind die da oben, die moralisch Verkommenen, die, gegen die wir uns wehren, die Täter. “ In dieser „Oben-Unten“-Denke sei es unvermeidlich, sich als Opfer zu sehen – Solidarität mit jenen, die glauben, sie kämen ständig zu kurz.

Die FPÖ als Sammelbecken latenter Paranoiker? Was hart klingt, will Ötsch so nicht verstanden wissen. „Wir alle fühlen uns ab und zu benachteiligt.“ Der Chef, der einen schlecht behandle; der Supermarkt, in dem man sich scheinbar immer die Kassa aussuche, bei der man am längsten wartet. „Der qualitative Unterschied“, sagt Ötsch, „ist bei der FPÖ, dass sie das gefühlte Bedroht-Sein zum Weltbild verdichtet hat.“

Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer bietet noch eine Erklärung für das Verfallen in die Opfer-Rolle, und die hat etwas mit dem Gewissen zu tun: „Wenn Strache ,Abendland in Christenhand‘ plakatiert, dann weiß er, dass er provoziert.“ Die erwartbare Kritik nutze der FPÖ-Chef, um das schlechte Gewissen zu besänftigen. „Die Haltung ,Die sind so unfair zu mir‘ hilft, das Über-Ich abzuwehren. Man darf sich wieder unschuldig fühlen.“ Zugegeben sei das ein primitiver Umgang mit Gewissen und Über-Ich. „Aber es ist menschlich.“

Neue Juden

Was nicht heißt, Ottomeyer verteidige Straches Auftritte. „Bei der FPÖ hat sich die Opferrolle zur politischen Rhetorik verfestigt. Und das trägt letztlich zu einer Verrohung der Sitten bei.“

Wie die Täter-Opfer-Umkehr funktioniert lässt sich gut am Streit um Straches „Neuen Juden“-Sager zeigen.

Als Demonstranten im Jänner die Teilnehmer eines Burschenschafter-Balles beschimpften, soll Strache im kleinen Kreis gesagt haben, die Freiheitlichen seien die „neuen Juden“.

Auch vergangenen Sonntag wurde der FPÖ-Chef darauf angesprochen. Wie immer reagierte er mit einem Dreischritt, den Ötsch analysiert: „Zuerst weist er zurück, sich je mit Opfern des NS-Regimes verglichen zu haben.“ Dann distanziere er sich vom Nationalsozialismus. „Und schließlich empört er sich, dass FPÖler ständig als Nazis verunglimpft werden.“ Er sei zurück in der gewohnten Rolle. „Am Ende ist Strache wieder eines: ein Opfer.“

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