Am Zaun der Verzweiflung

Laufend kollabieren Menschen im Tumult an der Grenze
Sieben unvergessliche Stunden als Flüchtlingshelferin in Spielfeld.

Die Flüchtlingsbetreuung findet von Null bis 24 Uhr statt. In vier Schichten zu je sechs Stunden. Auf der Homepage des Roten Kreuzes Steiermark helfen.st.roteskreuz.at sind am Freitag, den 30. Oktober die Schichten von Mittag bis Mitternacht bereits mit Freiwilligen besetzt. Aber von 6 Uhr früh bis zu Mittag werden noch Helfer gesucht. Also ab ins Auto um 3.30 Uhr von Wien nach Spielfeld. Mit der Mail-Bestätigung, eine registrierte Rotkreuz-Helferin zu sein, winken mich die Polizisten, die kurz vor dem Grenzübergang Spielfeld die Bundesstraße absperren, freundlich durch. Vor dem Zugang zum Flüchtlingslager warten unzählige Taxis und Busse auf ihre Flüchtlings-Kunden zum Weitertransport. Das Lager selbst besteht aus mehreren großen Zelten und langen Reihen von mobilen Toiletteanlagen. Das gesamte Areal ist mit Gittern und Straßensperren verbarrikadiert. Es will aber sowieso niemand aus dem Lager ausbrechen – wohin sollten sie auch gehen? Zu Fuß und erschöpft? Also warten die Menschen in langen Schlangen beim Lager-Ausgang in Richtung Österreich auf ihren Weitertransport.

Küche im Freien

Am Zaun der Verzweiflung
Flüchtlingshilfe in Spielfeld Reportage Daniela Kittner 30.10.2015
Auf der linken Seite, im hin-teren Teil des Lagers knapp vor dem Grenzzaun, befindet sich die Einsatzleitung des Roten Kreuzes. Man meldet sich an, bekommt eine Helfer-Weste und eine kurze Einschulung: "Da ist die Küche, da die Essensausgabe. Frag’, wo du gebraucht wirst." Die "Küche": In zwei riesigen Kesseln werden im Freien auf Gaskochern Gemüsesuppe und Curry zubereitet. Drei bis vier Helfer schnippeln ohne Pause Karotten, Erdäpfel und Zwiebel klein. Alle 30 bis 45 Minuten muss ein Kessel mit Essen fertig sein, so groß ist die Nachfrage. Die Essensausgabe im angrenzenden Zelt besteht aus einem langen Tisch mit diversen Stationen: Brot, Süßes, Bananen, Äpfel, Wasser in Halbliterflaschen, Suppe, Curryreis, Tee, Babynahrung. Hinter jeder Station steht ein Helfer, vor dem Tisch ziehen die Flüchtlinge vorbei. Soldaten des Bundesheeres sorgen dafür, dass es kein Geschubse gibt. Sie lassen die Flüchtlinge in Grüppchen ins Zelt, davor müssen sie sich anstellen. Ich gebe Bananen aus. Nina Planeta, Studentin aus Graz, verteilt Äpfel. Anna Becskei reicht Wasserflaschen. Sie ist Informatiklehrerin in Wien und widmet einen Tag ihrer Herbstferien den Flüchtlingen. Kinder in allen Altersstufen ziehen an dem Tisch vorbei. Sie zeigen mit den Fingern, wie viele Bananen sie möchten. Die meisten Männer können ein paar Brocken englisch. Four Bananas for my family please. Thank you Ma’am. Einer spricht uns auf Deutsch an. Er hat vor Jahrzehnten ein Jahr in Deutschland gearbeitet, ist dann zurück nach Syrien. Jetzt muss er die Heimat wieder verlassen: "In Syrien ist alles ein großes Problem", sagt er.

Familien, Familien

Am Zaun der Verzweiflung
Flüchtlingshilfe in Spielfeld Reportage Daniela Kittner 30.10.2015
Die Bananenkisten leeren sich im Zehn-Minuten-Takt. Hunderte ausgestreckte Hände. Thank you.– You are welcome. Männer mit Kindern auf dem Arm, Frauen mit Babys, Geschwisterkinder, befreundete Burschen, einige alte Leute und Familien, Familien, Familien. Manche erzählen, woher sie kommen. Afghanistan, Syrien, Marokko. Manche erzählen von der Flucht. Sie sind zwei und mehr Wochen unterwegs gewesen, manche berichten, sie hätten seit Tagen kaum gegessen. Stunde um Stunde schleppen Helfer im Hintergrund neue Lebensmittelkisten heran, Stunde um Stunde verteilen wir Brot, Obst und Wasser stückweise. Füllen Geschirr mit Suppen und Reis und Tee. Nach mehr als vier Stunden, es ist zwischen zehn und elf, lässt der Andrang etwas nach. Eine gute Gelegenheit, um zu erkunden, woher der wellenartig aufbrandende Stimmenlärm rührt. Der Lager-Ausgang in Richtung Slowenien mündet in Barrikaden, die sich in mehreren Reihen bis zum Gitterzaun an der slowenischen Grenze ziehen. An diesen Barrikaden auf der österreichischen Seite des Gitterzauns wimmelt es von unseren Soldaten und Polizisten. Auf der anderen Seite des Zauns befinden sich eine große Wiese, ein paar Büsche. Keinerlei Infrastruktur, keine Helfer, kein Essen, kein Wasser. Nichts. Hunderte, Tausende Flüchtlinge werden nach wochenlanger Reise, erschöpft, hungrig, dehydriert, einfach in der Wildnis abgestellt.

Wen wundert es da, dass sie gegen den Zaun drücken? Sie wollen ins Lager. Sie wollen weiter. Sie strecken die Hände durch die Gitter. Sie rufen und schreien. Unsere Soldaten fischen Kinder aus der Menge, damit sie nicht erdrückt werden. Alle paar Minuten kollabiert in dem Tumult ein Flüchtling. Aus Stress. Aus Wasser- und Nahrungsmangel. Aus Erschöpfung. Es ist der Zaun der Verzweiflung. Die Flüchtlinge heben die Ohnmächtigen auf die Barrikaden, unsere Sicherheitskräfte hieven sie herüber und tragen sie ein paar Meter weiter zu den Sanitätern. Bald sind die Tragbahren am Wegrand mit Patienten besetzt. Jetzt werden Decken auf den Asphalt geworfen. Ein Mann mit Kreislaufkollaps. Dann noch einer. Jetzt ein Mädchen. Gott sei Dank, es rührt sich wieder. Ein Bursche. Ihn hat es arg erwischt. Er windet sich in Schüttelkrämpfen. Hinter dem Lagerzaun steht der Bruder und redet ihm durchs Gitter gut zu.

Eine Frau hält durchs Gitter das Foto ihrer Tochter. Sie weint, ich solle ihr Kind suchen. Ein Soldat bringt ein vierjähriges Mädchen. Es hat die Eltern verloren. Der Dolmetscher probiert fünf Sprachen, bis sie antwortet. Um Verletzungen zu verhindern, lassen Polizei und Heer immer wieder Gruppen durch den Zaun. Dadurch werden jedoch oft Familien getrennt. Eine Frau hat es mit einem Zwilling geschafft, ihr Mann mit dem anderen nicht. Sie weint bitterlich, doch die Soldaten können nicht unter Hunderten Flüchtlingen auf der anderen Seite den einen suchen. Noch eine verzweifelte Frau, die ihr Kind verloren hat. Ein Soldat, diesmal mit einem Zweijährigen in den Armen. Es ist zu klein, um herauszufinden, in welcher Sprache man seine Eltern übers Megafon suchen soll. Ein weinendes Mädchen hockt neben seinem kollabierten Vater auf dem Asphalt und streicht ihm übers Haar.

Zaun wieder einpacken

Ich stelle mir dieselben Szenen in zwei Monaten vor, wenn es nicht plus 20, sondern minus zehn Grad hat. Wenn die Regierung nicht zusehen will, wie Leute am Zaun erfrieren, soll sie ihre "baulichen Maßnahmen" besser wieder einpacken. Wenn schon eine Schleuse, kann sich diese nur am Ausgang eines Lagers, aber nicht vor dem Zugang zu Wasser, Brot und Wärme befinden. Mit diesen Überlegungen fahre ich zurück in meine heile Welt. Im Bewusstsein, dass es nur zweieinhalb Stunden von Wien eine furchtbar traurige, andere Welt gibt.

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