RH kritisiert Wildwuchs bei Schulversuchen

Experimentierfeld Schule
Der Rechnungshof bemängelt die Schulversuchslandschaft. Manches Experiment läuft seit 50 Jahren.

Österreichs Schulversuche sind zu zahlreich, um sie zu überblicken. Das befindet der Rechnungshof (RH) und empfiehlt nun eine Reduktion. Im Schuljahr 2012/13 fanden an praktisch genau der Hälfte der rund 5.800 Schulstandorte Versuche statt, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht. Zum Teil laufen Schulversuche bereits rund 50 Jahre.

Der RH spricht von einer "ausgedehnten Schulversuchslandschaft": Insgesamt wurden 2012/13 5.367 Schulversuche an 2.900 Standorten durchgeführt (an einem Standort können auch mehrere Schulversuche durchgeführt werden). Am beliebtesten waren dabei Versuche zur alternativen Leistungsbeurteilung (2.026, vor allem an Volksschulen), zur Matura (797, vor allem an AHS) sowie zu Lehrplänen (478) und Prüfungsordnungen (287) im berufsbildenden Bereich. Durch die Übernahme der Zentralmatura an AHS ins Regelschulwesen in diesem Schuljahr sind aber mittlerweile zahlreiche Versuche weggefallen.

Als Grund für die häufige Einrichtung von Schulversuchen macht der RH fehlende oder zu starre rechtliche Vorgaben aus. So mussten etwa Berufsschulen Schulversuche anmelden, um Freigegenstände einzurichten oder Tourismusschulen auf Versuche zur Verlegung der Schulzeit zurückgreifen, um Betriebspraktika in der Wintersaison zu ermöglichen. Der RH empfiehlt daher einen Ausbau der Schulautonomie.

Lange Experimentierphasen

Kritik übte der RH auch daran, dass zahlreiche Schulversuche ihre Erprobungszeit schon weit überschritten hatten und damit ihren eigentlichen Zweck - die Erprobung von bestimmten Maßnahmen - nicht mehr erfüllen. Die ersten Versuche zur alternativen Leistungsbeurteilung sind bereits 50 Jahre alt, jene zum Ethikunterricht immerhin schon 17 Jahre. Der RH rät daher entweder zur Übernahme ins Regelschulwesen oder zur Beendigung.

Gleichzeitig bemängeln die Prüfer, dass viele Schulversuche nicht wissenschaftlich evaluiert bzw. zum Teil - wie etwa beim Ethikunterricht - Alternativvarianten gar nicht erprobt würden. Umgekehrt wurden aber Versuche wie etwa jene zur neuen Mittelschule (NMS) oder zur Zentralmatura ohne vorherige Evaluation ins Regelschulwesen übernommen.

Von oben und von unten

Der Grund dafür könnte in einer Art Zweiteilung der Schulversuchs-Varianten liegen: Einerseits gebe es vom Bildungsministerium initiierte und zu erprobende Schulmodelle mit eigener gesetzlicher Regelung ("Top-Down-Schulversuche") wie die Neue Mittelschule, die Modularisierung der Oberstufe oder die Zentralmatura, mit denen ohnehin schon beschlossene Maßnahmen erprobt werden. Andererseits gibt es Schulversuche, die auf Initiative der Schule bzw. der Landesschulräte laufen (Bottom-Up-Schulversuche).

Als weiteres Problem ortete der RH, dass das Bildungsministerium auch aufgrund der "Komplexität und Vielschichtigkeit des österreichischen Schulwesens" keine österreichweite Übersicht über alle Schulversuche habe. Das führt auch dazu, dass die Regelungen über die gesetzlich vorgegebenen Höchstgrenzen für die Anzahl von Schulversuchen nicht kontrolliert werden konnten und etwa bei den Versuchen zur alternativen Beurteilung überschritten wurden.

Hier gibt es den Bericht des RH als PDF.

RH kritisiert Wildwuchs bei Schulversuchen
Schulstandorte in Österreich, Anteil nach den häufigsten Schulversuchen - Tortengrafik Grafik 0130-15-Schule.ai, Format 88 x 55 mm

An der Hälfte aller österreichischen Schulen finden in irgendeiner Form Schulversuche statt. Die Palette der bisher erprobten Versuche ist dabei breit und reicht von einer "Trachtenklasse" und einem Ballett-Realgymnasium bis zur Neuen Mittelschule und zur Zentralmatura.

Der Grund für die ausufernden Versuche ist nicht zuletzt die jahrzehntelange Blockade von ÖVP und SPÖ in Sachen Schule: Schulgesetze konnten bis vor wenigen Jahren nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat geändert werden und sind zudem oft sehr eng gefasst. Die Einrichtung von Integrationsklassen, Änderungen bei der Anzahl oder Dauer von Schularbeiten oder einfach nur der Unterricht von Französisch statt Latein in der dritten Klasse Gymnasium war jahrelang nur als Schulversuch möglich.

Für jede Zielgruppe

Noch heute bedarf es eines Schulversuchs, wenn Kinder in der ersten Klasse Volksschule anders als mit Noten beurteilt werden sollen (etwa verbal, mit Pensenbüchern oder Portfolios). Die verbale Beurteilung ist auch der wahrscheinlich älteste noch laufende Schulversuch: 2016 feiert er sein 50-Jahr-Jubiläum. Mitte der 1970er Jahre kamen dann weitere Formen der alternativen Beurteilung dazu. Seit den 1990er Jahren laufen Versuche zu bilingualen Volksschulen und Gymnasien, seit 17 Jahren zum Ethik-Unterricht für jene Schüler, die keinen Religionsunterricht besuchen, seit zwölf Jahren gibt es eLearning in Notebook-Klassen.

Schulversuche gibt es aber auch, um "spezielle Bedürfnisse von bestimmten Zielgruppen" abzudecken, wie es der Rechnungshof nennt: Seit 1980 gibt es schon den Versuch "Realgymnasium für SchülerInnen der Ballettschule der Wiener Staatsoper", am Liese-Prokop-Oberstufenrealgymnasium für Hochleistungssportler dauert etwa die Oberstufe fünf statt vier Jahre. Außerdem werden Schulversuche eingerichtet, um etwa bestimmte Maßnahmen wie Biologie-Schularbeiten oder Schularbeiten mit dem Laptop rechtlich abzusichern bzw. wegen der Nichteinigung mit Standesvertretern fehlende Prüfungsordnungen und Lehrpläne zu ersetzen.

Es gibt aber auch Beispiele für Schulversuche, die ins Regelschulwesen übernommen wurden: Prominenteste Beispiele sind etwa die Neue Mittelschule, die Zentralmatura an AHS, die zweite lebende Fremdsprache ab der 3. Klasse Gymnasium (statt Latein) oder die Einführung von Integrationsklassen. Nach 48 Jahren im Versuchsstadium schaffte es schließlich auch die "Trachtenklasse" am Annahof in Salzburg: Der Lehrgang für Trachtenschneiderei wurde 1993 ins Regelschulwesen übernommen.

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