Nachmittagsunterricht: Lehrer haben Vetorecht

Nachmittagsunterricht: Lehrer haben Vetorecht
Die Regierung hat sich auf den Ausbau geeinigt. Die Lehrer haben weiter das letzte Wort.

Die Regierung hat sich auf den Ausbau geeinigt. Die Lehrer haben weiter das letzte Wort. Es war im Herbst 2003, als Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer die Forderung erhob: Die Hälfte aller Schulen müsse ganztägig geführt werden. Bis 2013 würden 100.000 Plätze angestrebt.
Seither debattiert die Koalition mal mehr, mal weniger leidenschaftlich über den Schulausbau. Die ÖVP und die Lehrer wollen bestenfalls Nachmittagsbetreuung, die SPÖ will auch Unterricht nach 14.00 Uhr. Die 100.000 Plätze sind jedenfalls geschafft. Und der aktuelle Kanzler Werner Faymann präsentierte am Dienstag im Ministerrat einen weiteren Ausbauplan: „Wir wollen bis 2018 schrittweise 200.000 Plätze für Pflichtschüler zur Verfügung haben.“ Bis zu 80 Millionen Euro jährlich stehen dafür ab 2014 zusätzlich bereit. Ein Überblick:

Wie wird die Ganztagsschule aussehen?
Zwei Modelle stehen zur Debatte. Die ÖVP macht sich stark für eine Nachmittagsbetreuung – sprich Hausübungen etc. Die SPÖ will Unterrichtselemente auch am Nachmittag. Welche Variante gewählt wird, darüber soll jede Schule individuell entscheiden.

Wie lange müssen die Kinder künftig in der Schule sein?
Egal ob Nachmittagsbetreuung oder verschränkte Schulform: Entscheidet sich ein Schulstandort für eine Ganztagsschule, muss eine Betreuung zwischen 8 und 16 Uhr geboten werden. Über eine Ausweitung der Zeiten (z. B. Start schon ab 7.00) entscheidet der Schulerhalter – meist also die Gemeinde.

Kommen jetzt neue Fächer für die Schüler?
Bei der Nachmittagsbetreuung stehen nach dem Essen Lernstunden und Freizeit auf dem Stundenplan – etwa Sportangebote oder Musik . Bei der verschränkten Version soll es am Nachmittag laut Unterrichtsministerium etwa mehr Sportunterricht geben, aber auch Fächer wie Religion, Deutsch oder Mathematik.

Welche Rechte und Pflichten haben die Eltern?
Die Eltern sollen künftig bei der Schuleinschreibung ihren Bedarf anmelden. Sprechen sich 15 Eltern für Nachmittagsunterricht aus, gibt es einen Rechtsanspruch auf Nachmittagsbetreuung. In kleineren Gemeinden besteht bereits ab zwölf Anmeldungen Anspruch auf eine „Schularten-übergreifende“ Nachmittagsbetreuung, sprich z. B. einer Betreuung von Volks- und Hauptschülern.

Wer entscheidet über die Art der Betreuung?
Steht der Bedarf fest, gibt es eine Abstimmung. Soll es eine verschränkte Form geben, müssen zwei Drittel der Eltern einer Klasse und zwei Drittel der Lehrer dafür stimmen. Zudem müssen alle Kinder auch den Nachmittagsunterricht besuchen.

Welche Rolle spielen die Lehrer dabei?
Der Plan von Unterrichtsministerin Claudia Schmied, dass künftig nur noch die Eltern über einen verschränkten Unterricht entscheiden, ist nicht aufgegangen. Die AHS-Direktoren etwa erklärten den Plan zum „Skandal“. Das Vetorecht bleibt vorerst aufrecht – was Schmied am Dienstag als „Wermutstropfen“ bezeichnete.

Wie wirkt sich das Lehrer-Vetorecht aus?
Kräftig: Der Anteil der verschränkten Variante unter den Ganztagsschulen liegt derzeit bei einem Prozent.

Was kostet der Ausbau der Ganztagsbetreuung?
80 Millionen Euro stehen schon bisher jährlich für den Ausbau bereit. Die Befristung bis 2014 wurde verlängert. Gleichzeitig gibt es ab 2014 weitere 80 Millionen Euro jährlich, die – bei Bedarf – bis 2018 zur Verfügung stehen.

Warum müssen auch die Eltern zahlen?
Der Bund zahlt maximal 8000 Euro pro Gruppe und Jahr für das Betreuungspersonal sowie maximal 50.000 Euro für Infrastruktur. Für die übrigen Kosten (etwa Verpflegung) müssen die Eltern aufkommen. Über die Höhe entscheiden die Schulerhalter. Die Beiträge variieren je nach Gemeinde, sie dürfen aber maximal kostendeckend sein.

Was hat die Ganztagsschule mit Ethikunterricht und Deutsch-Kursen zu tun?
Mit der Ganztagsschule soll vor allem mehr Sport in den Schulen Einzug halten. Auf Drängen der ÖVP könnte es aber zwei weitere Fächer geben. Die Partei will Schüler, die sich vom Religionsunterricht abmelden, zu einem Ethikunterricht verpflichten. Gleichzeitig könnte es am Nachmittag Sprachausbildung für Migranten geben.

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Fakten

Nachmittagsschule 119 Tausend Betreuungsplätze gibt es derzeit. Bis 2018 sollen es 200.000 werden. Hinzu kommen 50.000 Hortplätze. 30 Prozent
aller Schüler sollen 2018 einen Betreuungsplatz am Nachmittag haben. Aktuell sind es 17,55 Prozent. 1 Prozent – so niedrig ist der Anteil der verschränkten Variante unter den Ganztagsschulen.

Lediglich einen "Pyrrhussieg" attestieren die Grünen Unterrichtsministerin Schmied in Sachen Ganztagsschule. Die Ministerin habe "für ihren kleinen Sieg in Richtung ganztägiger Schule einen hohen Preis gezahlt", so der Grüne Bildungssprecher Harald Walser in einer Aussendung. Zusätzliche ganztägige Schulplätze und Nachmittagsbetreuung blieben "an harte Bedingungen geknüpft". Die Schuld dafür sieht Walser bei der ÖVP, der "Partei der Bonzen und Betonierer". Anstelle des notwendigen zügigen Ausbaus ganztägiger Schulplätze werde wieder einmal der Bedarf erhoben, kritisierte Walser. Dass Schmied "diskriminierenden Sonderklassen für Kinder mit Sprachproblemen zustimmen musste, schmerzt besonders".

Die FPÖ habe gegen die Ausweitung der Ganztagsschule nichts einzuwenden, solange die Wahlfreiheit für die Eltern bzw. Kinder bestehen bleibe, erklärte Vize-Parteichef Norbert Hofer. Generalsekretär Herbert Kickl erinnerte daran, dass der nunmehrige Vorstoß vor allem den Pflichtschulbereich betreffe und daher die Gemeinden weiter belaste. Es wäre seriös, gleichzeitig einen Bedeckungsvorschlag einzubringen, forderte er.

BZÖ-Bildungssprecherin Ursula Haubner begrüßte die Aufstockung der Mittel für den Ausbau ganztägiger Schulformen."Dieses Vorhaben entspricht vollkommen der geänderten Arbeitswelt. Endlich haben sich SPÖ und ÖVP darauf geeinigt und nehmen mehr Geld in die Hand", so Haubner. Auch sie pochte aber auf Wahlfreiheit: Die Entscheidung, ob Kinder Nachmittagsbetreuung oder einen verschränkten Unterricht haben, müsse direkt am Standort und auch durch die Eltern getroffen werden.

Auch das Team Stronach ließ sich zu einer Aussendung hinreißen: „Der weitere Ausbau der Ganztagsschule ist durchaus zu begrüßen. Allerdings muss sichergestellt werden, dass die Kinder nicht bloß beaufsichtigt werden, sondern tatsächlich Unterricht stattfindet, Bewegungseinheiten geboten, bzw. Hausaufgaben gemacht werden", so Bildungssprecher Stefan Markowitz.

Wie viele Ganztagsplätze gibt es derzeit?
Laut Bildungsministerium sind es rund 119.000 Ganztagsplätze an Pflichtschulen und AHS-Unterstufen. Das heißt: 17,5 Prozent aller 6- bis 14-Jährigen besuchen entweder eine Ganztagsschule (Unterricht und Freizeit sind auf den ganzen Tag verteilt) oder eine Schule mit Nachmittagsbetreuung (Unterricht am Vormittag, Freizeitbetreuung am Nachmittag). Die meisten Ganztagsplätze gibt es in Wien (47.200), die wenigsten in Kärnten (4800). Zählt man die rund 50.000 Hortplätze (außerschulische Nachmittagsbetreuung) dazu, werden knapp 25 Prozent aller 6- bis 14-Jährigen ganztätig an Schulen betreut. Ganztagsbetreuung heißt, dass die Kinder bis mindestens 16 Uhr beaufsichtigt werden.

Wie hoch ist der Bedarf an Ganztagsplätzen?
Laut Umfragen wünscht sich mehr als die Hälfte aller Eltern einen Ganztagsbetreuungsplatz für die Kinder, heißt es im Bildungsministerium. Demnach würde der Bedarf bei rund 350.000 Plätzen liegen.

Wie viele Plätze werden in den kommenden Jahren fix dazukommen?
Die Regierung hat beschlossen, bis 2014 jährlich 80 Millionen Euro in den Ausbau der Ganztagsbetreuung zu investieren, um
auf 160.000 Plätze zu kommen.

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Wie viel müssen Eltern für die ganztägige Betreuung ihrer Kinder zahlen?
Das entscheidet der Schulerhalter (bei Pflichtschulen die Gemeinden, bei Gymnasien der Bund), daher differieren die Kosten. In Wien zahlen Mütter und Väter etwa für den Ganztagsschulplatz im Schnitt 98 Euro im Monat. Dazu kommen zwischen 3,10 und 4,90 Euro pro Tag für das Essen. Die Kosten werden sozial gestaffelt. Eltern mit sehr geringem Einkommen zahlen nichts.

Wer entscheidet darüber, wo eine Ganztagsschule entsteht?
Eltern haben unter bestimmten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch auf einen ganztägigen Betreuungsplatz für ihr Kind: Wenn zehn AHS-Schüler einen Platz brauchen (und sich dafür anmelden), muss es Nachmittagsbetreuung geben. Bei den Pflichtschulen legen die Bundesländer die Limits fest. Ab 15 Kinder sind aber jedenfalls Plätze zur Verfügung zu stellen. Einen Rechtsanspruch auf einen echten Ganztagsschulplatz gibt es nur, wenn zwei Drittel aller Eltern und aller Lehrer der betroffenen Klasse dafür sind.

Was ist der Unterschied zwischen einer Ganztagsschule und der Gesamtschule?
In einer Ganztagsschule werden Unterricht und Freizeit über den gesamten Tag verteilt. Es besteht für den ganzen Tag Anwesenheitspflicht. Gesamtschule heißt, dass es nur einen Schultyp für alle 10- bis 14-Jährigen gibt. Die Schüler sollen aber individuell gefördert werden. Derzeit gibt es drei Schulformen: Die Hauptschule, die „Neue Mittelschule“ und die AHS-Unterstufe. Die SPÖ ist für die Gesamtschule, die ÖVP dagegen.

Schul- und Bildungsforscher Stefan T. Hopmann (Universität Wien) lehnt eine halbherzige Ganztagsschule ab, weil die "das Elend nur verlängert".

KURIER: Herr Professor Hopmann, was macht man mit einem Kind, das in der Unterstufe noch nicht sinner­fassend lesen kann?
Hopmann:
Ein flexibles Schulsystem hält das geduldig aus. Es gibt dort genug anderes zu lernen, bis irgendwann auch der Lese-Knoten platzt. Mein Sohn war so ein Fall, er ging in eine dänische Ganztagsschule. Heute ist er Kommunikationsforscher und schreibt mehr Bücher als ich. In Österreich hätte man ihn in eine Sprachheilschule gesteckt, von der er nie wieder rausgekommen wäre.

Sind Sie für die flächen­deckende Einführung der Ganztagsschule?
Die Erfahrungen aus Deutschland zeigen, dass ein bisschen Ganztagsschule, Hausaufgaben machen und so, nichts bringt. Die Ganztagsschule ist wie die Gesamtschule per se nicht gerechter oder leistungsfördernder als das gegliederte System. Beim Zustand der öffentlichen Haushalte ist es unwahrscheinlich, dass eine flächendeckende Ganztagsschule eingeführt wird, die die besten Lehrer holt, um Kinder aus einkommensschwachen Schichten zu fördern. Ich sage, seid vernünftig und konzentriert die Mittel auf Schul-Standorte, an denen sich die Probleme häufen. Die Eltern in Döbling können sich zur Not eine andere Förderung leisten, das muss ich nicht öffentlich subventionieren.

Die Chancen dafür?
Stehen schlecht. Wir schaffen es ja nicht einmal in der Halbtagsschule, eine moderne Organisation hinzubekommen. Österreich ist nicht zufällig mal wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass wir zu den miserabelsten Industrieländern gehören, was die Förderung von Bildungsaufsteigern angeht.

Die Bundesregierung hat beschlossen, die Mittel für den Ausbau ganztägiger Schulformen zu verdoppeln. 160 Millionen stehen bis zum Schuljahr 2018/2019 zur Verfügung, um für 200.000 von rund 650.000 Schülerinnen und Schülern im Pflichtschulalter eine sinnvolle Nachmittagsbetreuung zu schaffen. Das Konzept ist lebensnah: Damit die Kinder nicht nur herumhocken, sollen Sportstätten ausgebaut und die Zusammenarbeit mit Sportvereinen forciert werden; damit die Eltern nicht den Nachmittags-Chauffeur der Kinder spielen müssen, sollen die Angebote zum Musizieren, Theaterspielen und Tanzen am Schulstandort verstärkt werden. Auch die unterentwickelte Neugierde auf Naturwissenschaften soll angeregt werden. Mit einem Wort: Berufstätige Eltern sollen ihre Kinder in guter und sinnvoller Obhut wissen.

Daran ist rundherum nichts auszusetzen, außer, dass alles aufreizend langsam geht. Zur Erinnerung: Wir schreiben das Jahr 2012, und es haben erst 18 Prozent der Pflichtschul-Kinder einen schulischen Tagesbetreuungsplatz. Rechnet man die 50.000 Hortplätze dazu, steigt die Betreuungsquote auf 25 Prozent. Anders formuliert: Drei Viertel der Eltern müssen immer noch eine sinnvolle Nachmittagsbeschäftigung für ihre Kinder managen und mit ihnen lernen und Hausaufgaben machen, oft noch abends nach der Arbeit. Hut ab!

Der Druck zu mehr Leistung und Flexibilität in der realen Arbeitswelt steigt ständig, der geschützte Schulbetrieb wird dem, ob’s nun genehm ist oder nicht, Rechnung tragen und sein Selbstbild ändern müssen. Eltern und Schüler brauchen heute mehr als bloße Wissensvermittlung, sie verlangen umfassendes Service. Und die Kunden haben bekanntlich immer recht.

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