"Angekommen in der Wirklichkeitskultur"

ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner
ÖVP-Chef Mitterlehner im Interview über den "Weckruf" Obergrenze, Schwarz-Blau und Strache-Sager.

KURIER: Herr Vizekanzler, die Bundesregierung verabschiedet sich von der Willkommenskultur und bekommt Applaus von Viktor Orban. Ist das das Signal, das Sie aussenden wollen?

Es geht nicht um Orban, aber wir sind in der Wirklichkeitskultur angekommen. Das musste auch die SPÖ einsehen. Österreich hat eine langjährige Hilfstradition, aber wir erwarten in der Flüchtlingsfrage eine derart dynamische Entwicklung, dass wir dem Zustrom jetzt Grenzen setzen müssen.

Wie lange lässt sich die Obergrenze durchhalten? Bis die ersten Schüsse fallen?

Wir wollen durch ein besseres Grenzmanagement bei uns und durch den Schutz der EU-Außengrenzen den Zustrom so eindämmen, dass es gar nicht mehr zu solchen Massenphänomenen wie etwa 2015 in Nickelsdorf kommt. Niemand will Unruhen. Wir wollen im Gegenteil alles tun, um einen Gewalteinsatz zu verhindern.

Sind Sie gegen einen militärischen Schutz der Grenze? Oder wollen Sie mehr als den bloßen Assistenzeinsatz?

Zum Schutz der grünen Grenze und zur Erhöhung der Sicherheit an den Grenzübergängen ist die bestmögliche Abstimmung zwischen Polizei und Heer ein Gebot der Stunde. Das wird weiter verstärkt werden.

Was ist die vereinbarte Obergrenze an Flüchtlingen für Sie? Eine absolute Ziffer, eine eher flexible Zielgröße?

Zuerst ein politisches Ziel, das wir schaffen wollen. Aber Hauptsinn der Obergrenze ist es, einen Weckruf durch ganz Europa zu schicken. Die EU bewegt sich zu langsam, seit Monaten wird nur diskutiert. Deshalb hat sich auch bei Wohlmeinenden die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Grenze der Belastbarkeit erreicht ist.

Wird ihr Weckruf auch in Deutschland gehört werden? Spitzenpolitiker wie Finanzminister Schäuble kritisieren ja Österreichs Vorgehen.

Der Weckruf wird auch in Deutschland gehört werden. Deutschland wird reagieren müssen. Im März finden drei wichtige Landtagswahlen statt (in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, Anm.), da fällt eine erste Vorentscheidung. Auch EU-Ratspräsident Tusk hat gesagt, wir haben nur noch bis März Zeit.

Ist die Obergrenze für Sie eine Koalitionsbedingung?

Nur eine Pressekonferenz und dann wieder zur Tagesordnung zurückzukehren, wäre schade um die Zeit. Die Beschlüsse zu zerreden, begeistert mich wenig. Es geht jetzt um die Umsetzung der konkreten Maßnahmen. Das müssen sich auch die Damen und Herren des Koalitionspartners vor Augen halten, statt sofort wieder gemeinsame Beschlüsse zu relativieren.

Kritiker sagen, dass es Ihnen nur um den Sieg bei der Bundespräsidenten-Wahl und um eine Absprungbasis Richtung Schwarz-Blau geht. Was sagen Sie dazu?

Das ist ein künstlicher Vorwurf, wir diskutieren die Asylfragen seit Monaten intensiv und seriös. Uns geht es um die Interessen der besorgten Österreicher.

Ist es seriös, bei 37.500 neuen Flüchtlingen von einer Notlösung, von einem Notschrei zu reden? Knapp 30.000 Asylanträge hatten wir auch schon 2014.

Österreich hat 2015 mehr Flüchtlinge aufgenommen als 18 andere EU-Länder zusammen, dazu kommen die Folgekosten für die Systeme. Es ist deshalb eine Notlösung, weil wir nationalstaatlich handeln müssen. Die richtige Vorgangsweise wäre ja die EU-Lösung der Hotspots und des Schutzes der Außengrenzen. Jetzt müssen wir den Prozess umkehren, weil in der EU einfach nichts weitergeht.

Wann ist die Flüchtlings-Stimmung in der ÖVP gekippt? Was war Ihr Schlüsselerlebnis?

Nickelsdorf. Da gab es angesichts des Ansturms keine Chance auf Kontrolle der Flüchtlinge. Da ist mir bewusst geworden, dass das Ganze Richtung Massenvölkerwanderung geht. Aber ein Staat, der seine Grenzen nicht mehr schützen kann, gibt sich selbst auf.

Was empfinden Sie beim "Staatsfeind"-Sager von FP-Chef Strache gegen Kanzler Faymann?

Bei diesem heiklen Thema wären ein respektvoller Umgang und maßvolle Worte angebracht. Aber das muss jeder für sich entscheiden.

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