"Man hat das Politische verludert"

VP-Chef Mitterlehner, Ex-SP-Chef Faymann
Ex-VP-Minister Fischler und Grün-Mandatar Reimon im Doppeltalk.

KURIER-Serie "Zweite Republik - war's das?": Franz Fischler, Ex-ÖVP-Minister, und Michel Reimon, EU-Mandatar der Grünen, im Doppelinterview über die Krise der heimischen Politik und die (verloren gegangene) Fähigkeit, Kompromisse zu schließen.

KURIER: Bei der Hofburg-Wahl haben die ehemaligen Großparteien miserabel abgeschnitten. Erstmals wird jemand Bundespräsident, der nicht von Rot oder Schwarz unterstützt wird. Stehen wir vor einer politischen Zeitenwende?

Franz Fischler: Man sollte mit so martialischen Begriffen wie Zeitenwende oder Ende der Zweiten Republik vorsichtig sein. Was aber sicher stimmt, ist, dass es das bisherige politische System auf Bundesebene nach der nächsten Nationalratswahl nicht mehr geben kann. Und was auch stimmt, ist, dass beide ehemals großen Parteien in einer tiefen Krise stecken, aus der es sehr, sehr schwierig sein wird, wieder herauszukommen.

Michel Reimon: Wenn man die Zweite Republik definiert als Sozialpartnerschaft und zwei Großparteien, dann steht das vor einem Ende. Das ist eine natürliche Entwicklung über einen längeren Zeitraum. Die Zeit der fixen Blöcke, wo man sein Leben lang einer Partei angehört und in den Vorfeldorganisationen ist, ist vorbei. Die Menschen werden hochgradig mobil, was ich demokratiepolitisch für eine gute Sache halte. Ich freue mich, dass es dynamischer und beweglicher wird: Das bedeutet für uns als Grüne, dass wir wesentlich mehr politische Möglichkeiten haben.

"Man hat das Politische verludert"
Michel Reimon und Franz Fischler, Wien am 04.05.2016.

Heißt dynamischer nicht auch: instabiler?

Fischler: Wenn man unter Stabilität die große Koalition versteht, haben Sie recht. Die künftigen Regierungen werden möglicherweise sehr unterschiedliche Muster haben. Das heißt aber nicht, dass es keine stabilen Regierungen mehr geben kann. Überall in Europa gibt es Umbrüche. Es gibt nur wenige Staaten, wo das traditionelle System weiter funktioniert. Wir müssen lernen, mit dieser neuen Art des Politikmachens vernünftig umzugehen.

Reimon: Mir ist Instabilität zu negativ. Nehmen wir das Ergebnis der letzten Nationalrats-Wahl: Da schafft es Frank Stronach, mit wenigen Auftritten zehn Prozent zu gewinnen – danach löst sich das auf, die zehn Prozent wandern mehr oder weniger zu Strache. Wir werden in Zukunft immer mehr so bewegliche Wählerströme haben. Das wird die Politik verändern – aus meiner Sicht positiv. Da muss man erklären, was man tut. Um den Preis, dass sich das politische System das nicht mehr ausdealen kann – super!

Fischler: Eine lebendigere Form der Demokratie ist durchaus etwas Positives. Aber da gehört noch eine andere Konsequenz dazu, und die macht mir ziemliche Sorge: Sind die Bürger auch bereit, von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen? Wenn die Entwicklung dazu führt, dass die Wahlbeteiligung weit unter die Hälfte sinkt, dann haben wir ein neues Problem. Abgesehen davon wird dann das politische System tatsächlich instabil und anfällig für Außenseiter, Pressure Groups und Ähnliches.

Reimon: Wir werden eine politische Qualität immer stärker verlieren: Kompromisse zu machen. Ich geb’ dir was, du gibst mir was, wir sind beide einigermaßen unglücklich und beschließen gemeinsamen etwas – das geht in der großen öffentlichen Debatte vor Publikum schwer. Das ist ein Qualitätsverlust, wenn wir mit weniger Kompromissen arbeiten – und der Preis, den die direkte Demokratie dafür fordert, die Öffentlichkeit mehr einzubinden.

Fischler: Der Kompromiss, so sehr er in der öffentlichen Debatte abgewertet wird, ist das, worauf eine freie Demokratie beruht. Wenn eine demokratische Gesellschaft nicht fähig ist, tragbare Kompromisse zu schließen, setzt sie sich dem Risiko aus, dass undemokratische Entscheidungsmechanismen Platz greifen – siehe Orban, Putin, etc. Unsere Regierung ist leider kaum mehr fähig, gute und belastbare Kompromisse zu finden.

Reimon: Um einen Kompromiss zu schließen, muss ich wissen, wo ich hin will und welche Abstriche mir der Kompromiss wert ist. Ich sehe das derzeit nicht. Ich habe keine Ahnung, wo Faymann oder Mitterlehner in zwei Jahren stehen wollen. Deswegen ist es ein Fleckerlteppich, und da blockieren sie einander.

Fischler: Weiß man, wo die Grünen in zwei Jahren stehen wollen? Das ist dasselbe.

Reimon: Ich würde einen massiven Umbau in vielen gesellschaftspolitischen Bereichen, wirtschaftspolitisch ...

Fischler: Ja, Sie! Aber Sie sind nicht die Partei. Das zentrale Problem in dem Zusammenhang ist, dass sich die Mitte leider nicht mehr der politischen Debatte stellt und wir leider in der Mitte immer mehr ein Vakuum verspüren. Insoferne haben Sie Recht. Jeder fragt sich: Wofür stehen die noch? Wenn man diese Frage nicht glaubwürdig beantwortet, öffnet man die Tür für Populismen jeder Art. Man hat das genuin Politische in Österreich verludert, das ist das Problem.

"Man hat das Politische verludert"

Herr Reimon sagt, er wisse nicht, wofür die ÖVP steht. Können Sie ihm da helfen, Herr Fischler?

Fischler: Herr Reimon, das können Sie nicht wissen, weil es keine klare Position gibt. Reinhold Mitterlehner versucht zwar, Positionen einzunehmen, aber er hat gerade erst selbst erklärt, dass ihm von seinen "neun CSUs" via Zuruf gesagt wird, was ist. Dann haben sie zehn Meinungen – wie soll der einfache Bürger da wissen, was gilt? Wenn für den Bundeschef der ÖVP keine Handlungskompetenz geschaffen wird und wenn weiterhin die verschiedenen Interessensgruppen und Länder das Sagen haben, dann wird die ÖVP kaum je in der Lage sein klare Positionen zu beziehen. Der Parteichef muss sich hinstellen können, mit einer Position, die er auch unwidersprochen vertreten kann. Das zahlt sich aus, das sieht man bei Angela Merkel.

Was hat denn gut funktioniert in der Zweiten Republik, was sollte man bewahren?

Reimon: Das Österreich der beiden Großparteien war über Jahrzehnte eine Erfolgsgeschichte, das braucht man nicht schlechtreden. Es wurde irgendwann nicht mehr zeitgemäß. Was ich bewahren möchte: Die enge Verzahnung, die man in der gesamten Gesellschaft gehabt hat. Die Parteien haben ihre Vorfeldorganisationen gehabt, bis hin zu zwei Autofahrerklubs. Das hat auch dazu geführt, dass alle gesellschaftlichen Schichten in irgendwelchen Strukturen miteinander diskutieren. Das sollte man bewahren und fördern, als Politiker und auch als politisch Interessierte, die ganz bewusst nicht zu einer Partei wollen. Für die Zukunft brauchen wir da ein Biotop neuer, parteiunabhängiger Organisationen, die sich aktiv einbringen. Da kann jeder mitmachen.

Fischler: In den ersten Jahren der Zweiten Republik waren die österreichischen Politiker ihren deutschen Kollegen weit darin überlegen, einen Staatsvertrag zustande zu bringen. Ich darf auch daran erinnern, weil ich dieser Regierung angehört habe: In den vier Jahren, wo es um die Vorbereitung auf den EU-Beitritt gegangen ist, da ist regiert worden. Da hat man miteinander Lösungen gefunden, die heute noch funktionieren. Man darf auch nicht übersehen, dass es eine große Leistung der Sozialpartner ist, dass in Österreich die Streiks nach wie vor in Sekunden gemessen werden. Und es ist über Jahrzehnte immer möglich gewesen, die Arbeitslosigkeit niedrig zu halten. Bei aller Kritikwürdigkeit kann man nicht sagen, alles, was war, war falsch. Das Problem ist ein anderes: Ähnlich wie bei einer Wohnung oder einem Haus: Irgendwann ist das Ding abgenutzt und funktioniert nicht mehr so, wie es sollte. Dann steht man vor der Wahl: Soll man daran herumreparieren – oder besser ein neues Haus bauen?

Soll man es abreißen?

Fischler: Das wäre gefährlich. Wo wohnt man in der Zwischenzeit? Man muss es ja am selben Standort bauen. Aber man kann es systematisch generalsanieren.

KURIER-Serie: Zweite Republik - war's das?

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