"Das politische Personal ist schaurig"

Glavinic zu Parallelwelten: „Wenn sich eine zunehmende Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft abschottet, ist das weder für sie selbst noch für die Gesellschaft gut“
Erfolgsautor Thomas Glavinic wünscht sich mehr Mut in der Politik – und eine neue Zivilcourage.
"Das politische Personal ist schaurig"
Schriftsteller Thomas Glavinic über die Schwächen des Schulsystems, gefährliche Parallelgesellschaften – und die "intellektuellen Naturgewalten in der Politik".

KURIER: Herr Glavinic, Sie haben zum Schulschluss in einem persönlichen Essay beschrieben, wie Ihre Familie am Bildungssystem verzweifelte. Es ist die Geschichte eines Sechsjährigen, der von einem guten Schüler rasch zu einem Problemkind wurde. Was davon war für Sie System-bedingt?

Thomas Glavinic: Das größte Problem besteht darin, dass es die Kinder am Beginn ihrer Schullaufbahn, wenn sie Freude am Lernen entwickeln sollen, in der Regel nur mit einer einzigen Person zu tun haben. Diese ist zumeist die einzige Ansprechperson, und wenn Schüler und Lehrer nicht die selbe Wellenlänge haben – was zwangsläufig immer wieder vorkommen muss – bleibt der Schüler auf der Strecke.

Wie könnte man die Situation verbessern?

Ich glaube, man müsste das Lehrpersonal mehr durchmischen, es müssten mehrere Lehrer für eine Klasse zuständig sein, wie in den höheren Schulstufen. Das derzeitige System funktioniert für manche, aber nicht für alle. Mein Kind war für das Regelschulsystem offenbar ungeeignet. Wie sonst ist zu erklären, dass ein Kind, das seine Eltern häufig mit Büchern sieht und zudem eine nach Astrid Lindgren benannte Schule absolviert hat, nicht gerne liest? Da ist doch etwas schiefgelaufen.

Nur in der Schule?

Verstehen Sie mich nicht falsch, ich wälze die Schuld nicht ab. Zunächst einmal habe vor allem ich selbst versagt, ich habe einer negativen Entwicklung zu lange zugesehen. Trotzdem glaube ich, dass ein Mehr an Bezugspersonen in der Volksschule sinnvoll wäre.

Spricht man mit Lehrern, so sagen viele: Die Schule soll heute die gesamte Erziehungsarbeit der Eltern übernehmen – was sie de facto aber nicht kann.

Da stimme ich zu. Natürlich gibt es in allen Schichten Eltern, die sich zu wenig um ihre Kinder kümmern. Und es steht außer Frage, dass die Erziehungspflicht bei den Eltern liegt – die Schule kann das nur ergänzen. Umgekehrt frage ich mich aber: Wie kann es sein, dass es unser Bildungssystem schafft, vielen Kindern ihre angeborene Neugier so schnell auszutreiben?

Wie haben Sie selbst eigentlich die Kinderbetreuung gelöst?

Als Schriftsteller bin ich privilegiert. Ich muss nirgendwo hin, ich kann zu Hause arbeiten. Auch die Mutter meines Sohnes ist selbstständig, das bedeutet: Wir können uns die Betreuung flexibel einteilen. Für andere Eltern, die von 8 bis 17 Uhr im Büro sitzen müssen, sieht die Sache weitaus schwieriger aus. Die meisten Familien sind ja gezwungen, dass beide Elternteile arbeiten, weil die Lebenserhaltungskosten enorm gestiegen sind. Subjektiv empfunden stimmt da vieles im Verteilungsgefüge nicht mehr. Manche werden sehr viel reicher, der Mittelstand verliert rasant an realem Einkommen.

Jetzt sind wir mitten in einem der zentralen innenpolitischen Themen, der Verteilungsgerechtigkeit. Wird Arbeit im Vergleich zu Kapitalvermögen zu hoch besteuert?

Ich bin da gespalten: Wenn jemand zehn Millionen Euro im Jahr verdient, sollten ihm eigentlich vier Millionen zum Leben reichen. Umgekehrt ist es obszön, ihm einfach sechs Millionen wegzunehmen. Diejenigen, die soviel haben, stehlen es sich ja nicht. Das Geld wird ihnen von uns, von der Gesellschaft, zum Teil nachgeschmissen. Viele echauffieren sich zwar kurz, aber für die dahinterliegenden Probleme interessieren sich die wenigsten. Ich würde mir wünschen, dass wir wieder bewusster wahrnehmen, was rund um uns passiert. Wir müssen eine neue Zivilcourage entwickeln. Heute kümmern sich die Leute nur um sich selbst.

Das ist doch reichlich pauschal. Woran machen Sie das fest?

Nur ein Beispiel: Ich habe via Facebook und im Freundeskreis aufgerufen, alte Kleidung abzugeben. Ich hätte die Sachen gesammelt und bei der Caritas abgegeben. Wissen Sie, wie viele Rückmeldungen ich bekommen habe? Keine einzige! Bei ein paar Hundert Leuten!

Aber was sagt das über den Zustand der Gesellschaft?

Es zeigt, wie viele denken, nämlich: "Jaja, das mach ma schon." Dann kommt die nächste Facebook-Meldung, der nächste Reiz, und schon ist alles vergessen – weil’s zu anstrengend wäre, wirklich etwas zu tun. Aus dieser Bequemlichkeit müssen wir aber heraus. Wir brauchen eine neue Zivilgesellschaft – immerhin leben in diesem Land 500.000 Menschen unter dem Existenzminimum.

Diese gleichgültige Haltung orten Sie ja auch im politischen System. Zuletzt haben Sie Österreichs Politik mit Begriffen wie "Trägheit" und "Fadesse" beschrieben. Gilt das noch?

Durchaus, und der Grund liegt darin, dass ein bestimmter Menschenschlag in die Politik drängt. Wirklich Begabte gehen in die Wirtschaft, in die Wissenschaft oder wohin auch immer. Ich will nicht alle über einen Kamm scheren, aber die meisten Berufspolitiker würden in der Privatwirtschaft nicht sonderlich weit kommen. Weil sie durchschnittlich intelligent und begabt sind. Das sind keine Idioten – aber auch keine intellektuellen Naturgewalten.

Gibt’s keinen Politiker, der Ihnen imponiert?

Ich war damals gespannt, was Obama aus seiner Präsidentschaft macht – und wurde enttäuscht. National ist das Personal zu 90 Prozent schaurig. Nicht falsch verstehen, im persönlichen Umgang sind viele sympathisch. Ein HC Strache genauso wie eine Eva Glawischnig. Aber am Ende bringen sie das Land einfach nicht weiter.

Was ist mit den Neuen?

Bei den Neos finde ich vor allem Sepp Schellhorn spannend. Den würde ich gern als Minister erleben. Unkonventionell, extrem intelligent, und er hat den Ehrgeiz, etwas zu verändern. Das ist die Einstellung, die in unserer Gesellschaft fehlt – und die zumindest manche Politiker in Deutschland haben.

An wen denken Sie da?

Wenn ein Joachim Gauck als Bundespräsident sagt, wir dürfen keine Parallelgesellschaften dulden, dann ist das erstens richtig und zweitens in Österreich undenkbar, weil die politische Öffentlichkeit ihn in ein rechtes Eck stellen würde.

Die FPÖ würde Ihnen an dieser Stelle applaudieren.

Natürlich, aber diese Feststellung ist ja nicht gleichwertig mit dem Satz "Ausländer raus". Alles, was damit gesagt wird, ist: Menschen, die zu uns kommen, müssen überzeugt werden, dass wir hier keine Stammeskultur haben, sondern eine gefestigte Demokratie, in der beide Geschlechter gleich behandelt werden. Wer das nicht haben will, der wird sich hier nicht wohl fühlen – und mit dem werden wir uns nicht wohl fühlen. Wenn sich eine zunehmende Zahl von Menschen in unserer Gesellschaft abschottet, ist das weder für sie selbst noch für die Gesellschaft gut. In Deutschland sagen das sogar die Linken, das ist eine Debatte, die geführt werden muss. Die Alternative: Die Bürger grummeln zunehmend in sich hinein – und wählen FPÖ. Der verdruckste Umgang mit sozialen Problemen führt nur zur Stärkung der Extremen.

Haben Sie die Gedenkfeier für Barbara Prammer verfolgt?

Oberflächlich, weil ich das zu traurig finde. Für mich geht’s da weniger um die öffentliche Person, ich denke bei solchen Anlässen an die Familie, an die Kinder, die Angehörigen, und die tun mir unendlich leid.

Ich frage deshalb, weil Heinz Fischer bei der Gedenkfeier meinte: Der Politik täte mehr gegenseitige Wertschätzung gut.

Da bin ich ganz bei ihm. Ich selbst nehme mich da überhaupt nicht aus, ich sehe zu oft das Negative. Den Menschen zu Lebzeiten Wertschätzung entgegenzubringen würde unsere Gesellschaft bestimmt nicht schlechter machen.

So wird Österreich besser: Alle Teile der KURIER-Serie finden Sie hier.

Biografie

Glavinic wurde 1972 in Graz geboren, war Werbetexter, Taxifahrer und schreibt seit 1991. 1996 veröffentlichte er seinen Debütroman "Carl Haffners Liebe zum Unentschieden", in dem er das Leben eines Schachmeisters beschreibt. Glavinic ist selbst Schachspieler und schaffte es als Jugendlicher bis auf Platz 2 der österreichischen Rangliste.

Auszeichnungen

Für den Kriminalroman "Der Kameramörder" bekam Glavinic den Friedrich-Glauser-Preis. Sein Roman "Das bin doch ich" wurde 2007 für den Deutschen Buchpreis nominiert – wie auch "Das größere Wunder" im Vorjahr.

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