Kampf gegen die Schulmisere beginnt im Kindergarten

Damit Kinder gut lernen können, müssen sie bereits im Kindergarten vieles lernen.
In den ersten sechs Lebensjahren werden die Grundlagen gelegt. Kindergärten sind oft überfordert.

Die Ergebnisse der Bildungsstandards waren dramatisch: Nur jeder fünfte Viertklässler kann richtig schreiben (der KURIER berichtete in der Serie "Schule in Not"). Das stellt die Volksschulen zukünftig vor riesige Herausforderungen. Doch nicht nur sie – auch in den Kindergärten muss sich einiges ändern. Denn die Basis für ABC und Einmaleins wird bereits in den ersten Lebensjahren gelegt. Hier erwerben die Kinder jene Kompetenzen, die in der Schule und im Leben notwendig sind, erklärt die Psychologin Ursula Kastner-Koller von der Uni Wien: "Das Wichtigste ist die Sprache, weil sie in viele Bereiche hineinspielt. Wer keine Worte hat, kann sein Denken nicht entwickeln." Es gehe aber auch um ein "phonologisches Bewusstsein": Kinder müssen Silben unterscheiden können, um später lesen und schreiben zu lernen", sagt die Professorin für Entwicklungsdiagnostik.

Auch scheinbar einfache Dinge wie einen Stift zu halten, oder auf einem Bein zu hüpfen sind wichtige Schritte auf dem Weg zu Schulreife. Egal, ob Fein- und Grobmotorik, Sprache oder soziales Lernen: Alle Fähigkeiten sind gleich wichtig. Für manches – z. B. wie man mit Frustration umgeht – braucht es eine Person, zu der das Kind eine Beziehung hat, sagt Kastner-Kollers Uni-Kollegin Pia Deimann.

Schlüssel zum Erfolg

Doch genau darin liegt das Problem: "Eine Pädagogin kann nicht auf 25 Kinder intensiv eingehen und all ihre Defizite ausgleichen", beklagt Kastner-Koller. Nicht umsonst empfiehlt die EU einen Betreuungsschlüssel von sechs Kindern pro Erwachsenem und eine maximale Gruppengröße von 20 Kindern im Kindergarten. In den Krippen sollten auf einen Betreuer drei Kinder kommen. In Österreich ist das meist ein frommer Wunsch.

Heide Lex-Nalis von der Plattform Educare, einst Leiterin einer BAKIP (Schule für Kindergartenpädagogik), sieht nicht nur hier ein Problem. Auch die Qualifizierung der Kindergärtner sei nicht optimal: "Laut EU sollte die Ausbildung nicht vor 18 Jahren beginnen und mindestens drei Jahre dauern. In unseren BAKIP lernen 14-Jährige, die mit dem Stoff einfach überfordert sind. Die Kollegs nach der Matura dauern nur dreieinhalb Semester. Das ist zu kurz." Was fast komplett fehlt: Pädagoginnen, die türkisch, arabisch oder serbisch sprechen, und eine Zusatzausbildung für Deutsch als Zweitsprache haben. "Derzeit sind nur drei Prozent der BAKIP-Absolventen Migranten", beklagt Lex-Nalis. Dabei wären gerade diese Pädagogen wertvoll, um auf Augenhöhe mit migrantischen Familien zu kommunizieren. Gerade diese Kinder hätten einen enormen Unterstützungsbedarf. Lex-Nalis fordert deshalb etwas, was in vielen Ohren ungeheuerlich klingt: "Diese Kinder müssten schon mit einem Jahr in einen Kindergarten, unabhängig davon, ob die Mutter berufstätig ist. Ein verpflichtendes Kindergartenjahr reicht nicht."

Wo Hilfe nötig ist

Nicht nur Migranten haben Defizite. Das haben die Bildungsstandards gezeigt. Kastner-Koller und Deimann entwickelten Tests, die Entwicklungsverzögerungen feststellen. Doch leider: "Eingesetzt werden sie meist erst, wenn die Schulreife fraglich ist, und nicht zum Erkennen von Nachholbedarf", sagt Kastner-Koller. "Nachgeschaut wird in den Kindergärten nur, ob die Kleinen ausreichend gut sprechen. Doch Tests allein bringen nichts, wenn am Ende keine Ressourcen da sind, um Kinder zu fördern." Sie könnte sich ein besseres Angebot in Eltern-Kind-Zentren oder beim Kinderarzt vorstellen, um Familien zu erreichen, deren Kinder nicht in den Kindergarten gehen. "Man müsste den Zugang zu Institutionen verbessern und Psychologen und Sozialarbeiter einbinden", fordert Lex-Nalis (siehe unten).

Handlungsbedarf gibt es auch beim Übergang vom Kindergarten in die Volksschule. Die Bildungsreform bleibt auch hier auf halbem Weg stecken. In den Kindergärten wird zwar ein Portfolio über jedes Kind angelegt. Es bleibt Eltern aber freigestellt, ob sie dieses zur Schuleinschreibung mitbringen.

TIPP: Am Dienstag, 5. April, findet ein KURIER-Gespräch zum Thema "Schule in Not" statt.

Kurz nach der Geburt eines Kindes bekommt in der deutschen Stadt Herford jede Familie Besuch. Angekündigt wird der mit einem Brief des Bürgermeisters. In einem einstündigen Gespräch unterhalten sich Sozialarbeiter mit den Jung-Eltern über Erziehungsfragen und sie bringen ein Buch über die Entwicklung des Kindes sowie eine Broschüre über Beratungsstellen mit. Das Besondere in Herford: Eltern bekommen eine Prämie von 500 Euro, wenn sie an dem Projekt "Chancen-reich" teilnehmen.

Für die Eltern heißt das: Sie müssen einiges erfüllen, um das Geld zu erhalten. So etwa einen von fünf angebotene Kursen besuchen, die Titel haben wie "starke Eltern, starke Kinder". Zudem sind alle Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen zu absolvieren, die Kinder müssen mit drei Jahren in den Kindergarten.

Das Projekt wendet sich an alle Eltern – unabhängig vom Einkommen. "Wir machen kein Aufsehen um Lohnbescheinigungen", sagt Hans-Ulrich Höhl, Geschäftsführer der Carina-Stiftung, die das Projekt zu 80 Prozent finanziert. "So vermeiden wir Stigmatisierungen." Und es lohnt sich: Sozial Schwache nehmen solche Angebote eher an als Programme, die sich ausschließlich an bildungsferne Familien richten. Das zeigt eine Studie der Uni Berlin.

Zwar nutzen Mittelschicht-Familien in höherem Maße die Angebote von "Chancen-reich." Doch das eigentliche Ziel ist eben auch erreicht: "Viele Sozialhilfeempfänger und Migranten nehmen teil. Ihre Kinder werden besser auf das Leben und Schule vorbereitet", sagt Höhl. Pädagogen stellen erfreut fest, dass diese Kinder ein besseres Sozialverhalten an den Tag legen. Beim Sprechen tun sie sich leichter als Gleichaltrige. Auch ihr Wortschatz ist umfangreicher.

Fragt man Eltern, was für sie der Anreiz war, bei "Chancen-reich" mitzumachen, ist die Antwort fast unisono: "Das Geld". Insgesamt betragen die Kosten pro Kind im Projekt 800 Euro. Gut investiertes Geld. Wissenschaftlich fundierte Berechnungen kommen zum Schluss, dass bei Kindern aus benachteiligten Familien die Rendite sieben Prozent pro Jahr ist. Nicht nur ökonomisch ist das ein Gewinn – die Kinder profitieren ein Leben lang.

Vergangenen November präsentierten SPÖ-Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer die Einigung über die Bildungsreform. Ein nicht kleiner, aber wesentlicher Eckpunkt gilt der Elementarpädagogik: Das zweite Kindergartenjahr soll verpflichtend für alle Kinder ab vier Jahren kommen. Verpflichtend aber nur, wenn das Kind Sprach- oder Entwicklungsdefizite aufweist. Ein eigener Test soll das überprüfen.

Bereits jetzt besuchen schon 95 Prozent der Vierjährigen den Kindergarten. Durch die Verpflichtung will die Politik die restlichen fünf Prozent erreichen. Eine große Hürde gibt es aber noch: Bei den für die Gemeinden zusätzlich anfallenden Kosten wird erhofft, dass das Finanzministerium diesen Teil der Bildungsreform mitträgt – denn die Reform steht unter "Finanzierungsvorbehalt". Geplanter Start ist Herbst 2018.

Ein neues Buch für Eltern und Pädagogen von Kindergarten- und Volksschulkindern stellt wissenschaftlich basierte Kinderlieder vor. Mit "Hör zu, Bakabu" bekommen die Kinder Spaß an Rhythmus und Reimen. Verlag: Verein Musik & Sprache, 34,95 Euro.www.sprachspielgesang.com

So gelingt der Übertritt vom Kindergarten in die Schule spielerisch: Lerngymnastik, Denk- und Zahlenspiele, Förderung der Teamfähigkeit, lustige Sprachspiele und vieles mehr bietet das Buch: "Schritt für Schritt zum Schuleintritt" von Franz und Renate Steiner, Veritas-Verlag, 19,95 Euro.

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