"Alle sollen wissen, was passiert ist"

Hugo Höllenreiner, Sandra Lumetsberger
Hugo Höllenreiner war im Konzentrationslager. Fast 50 Jahre konnte er nicht darüber sprechen.

Der Mann mit weißem Haar und schwarzem Bart blickt gedankenversunken auf den Tisch vor ihm, er schiebt sein Handy hin und her. Er setzt zur Antwort auf die Frage an, schweigt aber. Dann sagt er: „Das geht nicht heraus.“ Hugo Höllenreiner ist Sinto. Mit neun Jahren kam er nach Auschwitz, in die Fänge von NS-Arzt Josef Mengele, dann über Ravensbrück und Mauthausen nach Bergen-Belsen. Mit 79 wurde sein Engagement für die Opfer gestern im Jüdischen Museum in München mit dem „Austrian Holocaust Memorial Award“ geehrt. Dazwischen lag eine lange Zeit des Schweigens.

KURIER: Herr Höllenreiner, Ihr zweiter Vorname ist Adolf.
Hugo Höllenreiner: Ich bin 1933 geboren, da war Hitler schon am Ruder. Auf der Straße riefen mich meine Eltern laut ‚Adolf‘. Sie dachten, der Name kann mich retten. Ich sagte: ‚Ich heiß nicht Adolf’‘.

Trotzdem wurde Ihre Familie 1943 von der Polizei inhaftiert. Sie waren neun Jahre alt.
Es hieß, wir fahren mit dem Zug ins Ausland, darauf freute ich mich. Aber ich kam ins KZ nach Ausschwitz. Der Boden in den Viehwaggons war voll Kot, die Leute sind ausgerutscht, ohnmächtig geworden. Nach Tagen wurde die Tür aufgerissen. Sie haben die Toten rausgezogen. Dann kam jeder wo anders hin. Ich war ganz alleine.

Wissen Sie heute noch, was Sie als Neunjähriger dachten?
Ich dachte nur, ich muss meine Eltern und meine Geschwister finden, ihnen helfen. Das hebt einen innerlich wieder auf. Ich habe meine Mutter in Mauthausen wiedergefunden. Sie sagte ‚Denk nicht, wir bleiben hier, wir kommen wieder raus‘.

So war es auch. Sie und Ihre Eltern und Geschwister überlebten. 1945 wurden Sie befreit.
Für uns hat sich der Himmel geöffnet. Wir Kinder waren schwach, sind aber gelaufen und gelaufen. Nach drei Kilometer mussten wir uns in den Straßengraben legen, weil wir nicht mehr konnten. Wir haben bei Bauernhöfen gebettelt und ihnen unsere Lager-Nummer gezeigt (Er knöpft den Ärmel auf und zeigt die Tätowierung auf seinem linken Unterarm). Z steht für Zigeuner, 3529 habe ich bei der Zählung in Ausschwitz bekommen. Wir waren wochenlang unterwegs, nichts im Magen. Als wir zurück nach München kamen, wohnten andere Leute in unserem Haus.

"Alle sollen wissen, was passiert ist"
Hugo Höllenreiners Familie lebt seit mehr als 600 Jahren in Deutschland. 1438 erhielten sie unter Kaiser Albrecht II. ein Wappen.
Sie standen vor dem Nichts.
Im Stall, wo früher unsere Pferde standen, richteten wir uns ein Nachtlager. Sechs Wochen später kehrte Papa heim, unser Idol. Er ging ins Haus und schrie die Leute an: ’Raus! Raus aus meinem Haus’. Der Papa hat alles wieder in Ordnung gebracht, ich war so stolz. Er ist zur Arbeit gegangen und hat alles versucht, um uns durchzubringen. Wir waren elend und schwach. Als ich wieder zur Schule ging, konnte ich mich kaum auf den Beinen halten.

Ihr Peiniger Josef Mengele setzte sich, wie viele, nach Südamerika ab. Wollten Sie je Vergeltung?
Ein Kollege von mir hat das Haus von Mengele gefunden, allerdings ist der drei Tage zuvor gestorben. Ich habe immer gedacht, wenn ich einmal älter bin, fahre ich hin ... Aber man hat noch so große Angst. Wenn du nichts getan hast und zusammengeschlagen und getreten wirst – mit ihren Stiefeln.

"Alle sollen wissen, was passiert ist"
Hugo Höllenreiner, Sandra Lumetsberger
Sie haben fast 40 Jahre über die Zeit im KZ geschwiegen. Auch nicht mit Ihrer Familie gesprochen.
Ich habe es ihnen nach langer Zeit beigebracht, aber wie es wirklich ist, kann man nicht erklären. Man kann nicht erklären, was Hunger ist. Man tut alles, um etwas in den Magen zu bekommen. Ich denke oft an den Mann, der nackt, halb verfault auf dem Boden gelegen ist, über den sie drüber gelaufen sind. Seine Hand war zu einer Faust geballt und steinhart. Ich wollte sie aufmachen. Wir durften das nicht, also bin ich hin gerobbt. Ich versuchte mit einem Stück Eisen, ihm die Hand zu öffnen. Es hat geknackst. Was drinnen war, habe ich gegessen. Es ist unglaublich, was ein Mensch tut, um weiterzuleben. Das kann man nicht erklären. Ich habe lange nicht darüber gesprochen.

Mittlerweile reden Sie. In Schulen erzählen Sie Kindern als Zeitzeuge von Ihrem Schicksal.
Eigentlich will ich nicht mehr darüber reden. Es tut sehr weh. Ich mache es trotzdem. Die Menschen sollen wissen, was alles passiert ist. Es darf nicht wieder geschehen, dass Leute sterben müssen, die nichts getan haben. Die Kinder in den Schulen geben diese Geschichte weiter. Manche heben am Schluss die Hände und rufen ‚Wir sind dagegen, wir sind dagegen‘. Das berührt mich.

"Alle sollen wissen, was passiert ist"
epa00597001 Hugo Hoellenreiner (L) and Franz Rosenbach, survivors of the holocaust, carry a wreath to a commemoration for killed Sinti and Romanies at the former concentration camp Sachsenhausen in Oranienburg, Germany, Thursday, 15 December 2005. Pictured at far right in the background is Matthias Platzeck, Prime Minister of the German state of Brandenburg and Chairman of the SPD party. A delegation of 25 people of the central council of German Sinti and Romanies laid down flowers and wreaths at the 'Z' station on the grounds of the concentration camp memorial place. On 16 December 1942, SS leader Heinrich Himmler wrote the 'Auschwitz order', which meant the death of 500,000 Sinti and Romanies. EPA/JAN WOITAS

Erst 1982 wurden die NS-Verbrechen an Sinti und Roma als Völkermord anerkannt. Sie haben sich für die Erinnerung an die Opfer eingesetzt und wurden nun dafür ausgezeichnet.
Eine große Ehre. Ich bin froh, dass ich angefangen habe zu reden und all die Briefe geschrieben habe. Aber die nächsten Tage wird alles wieder nicht aus meinem Kopf gehen. Das kann man nicht vergessen und verzeihen. Das geht nicht heraus, das bleibt drinnen.

Wollten Sie nie aus Deutschland weg?
Am Anfang schon, aber ich konnte weder lesen noch schreiben, die Nazis hatten mich ja aus der Schule gerissen. Was mache ich in Amerika, wie kann ich mich unterhalten? Da verhungern wir erst recht. Mein Vater hat auch gesagt ‚Ich bin Deutscher, warum soll ich wegziehen?‘ Ich habe gearbeitet, und langsam habe ich mich aufgerichtet. Schlimm war, dass ich auch nach den Lagern immer ‚der Zigeuner‘ war.

Der Zeitzeuge: Hugo Höllenreiner wurde am 15. September 1933 als drittes von sechs Kindern geboren und wuchs in Gießen (D) auf. Seine Familie gehört zur Volksgruppe Sinti und lebt seit mehr als 600 Jahren in Deutschland. Während des Holocausts starben eine halbe Million Sinti und Roma. Aus Höllenreiners familiären Umfeld mussten 36 Menschen ihr Leben lassen. Der 79-Jährige wohnt heute mit seiner Frau und ihrer Tochter in Ingolstadt. Er hat zwei Kinder aus erster Ehe.

Die Auszeichnung: Der Verein Österreichischer Auslandsdienst vergibt seit 2006 jährlich den "Austrian Holocaust Memorial Award" an Menschen, die sich besonders für das Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus engagieren. Am 2. Mai 2013 übergab Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelischen Kultusgemeinde München und Oberbayern die Auszeichnung an Hugo Höllenreiner.

Buchtipp: "Denk nicht, wir bleiben hier!" Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner von Anja Tuckermann, erschienen 2005 im Carl Hanser Verlag

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