Warum Thomas Klestil zurückschreckte, das Parlament zu entlassen

Irritationen: Thomas Klestil (re.) wollte Wolfgang Schüssel nicht als Kanzler angeloben
Welcher Präsident bislang einmalig Neuwahlen erzwang – und warum Lugner mit seiner Verfassungs-Auslegung dennoch Unrecht hat.

Kann der Bundespräsident aus eigenen Stücken den Nationalrat auflösen? Ja, er kann das, antwortete jüngst Präsidentschaftskandidat Richard Lugner in einem Interview mit der ZIB 2 – und führte überzeugt den Artikel 29 der Bundesverfassung ins Treffen, in dem es da heißt: "Der Bundespräsident kann den Nationalrat auflösen."

Lugners Fehler besteht im Wesentlichen darin, den Artikel isoliert zu sehen und auf den Artikel 67 zu vergessen, der klar sagt: "Alle Akte des Bundespräsidenten erfolgen, soweit nicht verfassungsmäßig anderes bestimmt ist, auf Vorschlag der Bundesregierung."

Es gibt freilich eine – nicht unkomplizierte – Möglichkeit, mit der ein Bundespräsident das Parlament fast im Alleingang auflösen könnte: Er entlässt zunächst die Bundesregierung – wofür er laut Verfassung explizit keine Zustimmung benötigt (Artikel 70) – und setzt hernach ein ihm willfähriges Regierungsteam ein, das ihm vorschlägt bzw. ihn damit beauftragt, den Nationalrat aufzulösen.

Historischer Fall

Klingt eher theoretisch? Ist es nicht. Denn in der Geschichte Österreichs gab es zumindest zwei Bundespräsidenten, die diesen Gedanken nachweislich gehabt haben – einer setzte ihn sogar in die Realität um.

Der erste heißt Wilhelm Miklas. Nach dem Auseinanderfallen der bürgerlichen Koalition beauftragte Miklas 1930 seinen christlich-sozialen Parteifreund Carl Vaugoin, eine neue Regierung zu bilden – Bundespräsident Miklas wollte die bürgerliche Regierung retten. Vaugoin hatte als Kanzler zwar keine Mehrheit im Parlament hinter sich, wurde von Miklas aber trotzdem angelobt. Vaugoin schlug Miklas die Auflösung des Nationalrats vor, um Abstimmungsniederlagen im Plenum zu verhindern. Das Ergebnis: Der Nationalrat wurde aufgelöst, es gab Neuwahlen – diese gewannen aber die Sozialdemokraten, sprich: Die Wähler bestraften die Bürgerlichen. Genau das, nämlich Miklas Niederlage, führten Berater im Winter 1999/2000 ins Treffen, als Bundespräsident Thomas Klestil in kleiner Runde in der Hofburg diskutierte, wie er es denn anstellen könnte, Wolfgang Schüssel doch nicht zum Bundeskanzler machen zu müssen.

"Es war eine Tragödie", erzählt ein Sitzungsteilnehmer dem KURIER. "Klestil überlegte, ob er anstatt der ÖVP-FPÖ-Regierung ein Beamten-Team angeloben könnte – inklusive einer Auflösung des Nationalrats, um dank der Neuwahl andere Regierungsmehrheiten zu ermöglichen." Mehrere Berater hätten Klestil abgeraten. "Wir haben gesagt: ,Wenn Sie als Bundespräsident Neuwahlen auslösen und es trotzdem bei der schwarz-blauen Mehrheit bleibt, gibt es für sie nur eine Konsequenz: Sie müssten als Staatsoberhaupt zurücktreten.’ Das hat ihn wohl überzeugt."

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