Heinz Fischer: "Ein Reinigungsprozess ist notwendig"

Fischer: "Aufgaben als etwas Spannendes und Schönes empfunden."
In zwölf Tagen endet die Amtszeit von Bundespräsident Heinz Fischer. Im Interview zieht er seine politische und persönliche Bilanz: Von der Krise der Zweiten Republik bis zum Geheimnis seiner glücklichen Ehe.

KURIER: Vor zwei Tagen gab es ein eindeutiges Ja zum Brexit. Die Reaktionen reichen von "Schwarzer Tag für Europa" bis zu "Chance für die Erneuerung der EU". Wie sehen Sie die Situation?

Heinz Fischer: Es ist ein geschichtsträchtiges Ereignis. Europa hält den Atem an, aber es ist auch ein Weckruf. Nicht für die, die sich gegen die EU stellen, sondern für jene, denen Europa am Herzen liegt. In der Welt von heute zählen keine Nationalismen, sondern eine enge Zusammenarbeit aller Länder Europas.

Fürchten Sie einen Dominoeffekt?

Großbritannien hatte immer schon einen Sonderstatus in der EU und eine große Zahl an EU-Gegnern. Ich sehe in Österreich und auch in den anderen EU-Ländern keine Anzeichen, dass weitere Austritte bevorstehen könnten.

Diese Woche gab es am Verfassungsgerichtshof die Zeugenaussagen der Wahlbeisitzer bei der Hofburg-Stichwahl. Waren Sie schockiert, wie leichtfertig die Wahlbeisitzer Protokolle unterschrieben haben, obwohl sie bei der Stimmenauszählung nicht anwesend waren?

Ich möchte mich zu dem Thema der Wahlanfechtung nicht im Detail äußern. Aber was ich über die Medien von den Zeugenaussagen referiert bekommen habe, macht mich sehr besorgt. In dieser Causa darf man nichts beschönigen. Da ist es notwendig, einen Reinigungs- und Aufklärungsprozess zu starten. Gott sei Dank ist bis jetzt keine Betrugs- oder Fälschungsabsicht erkennbar. Aber es ist schlimm genug, dass eine detailliert vorgeschriebene Prozedur in so deutlich erkennbarer Weise nicht ernst genommen wurde.

Sie haben die Zweite Republik 50 Jahre lang mitgestaltet. Erfüllt es Sie mit Sorge, dass jene Institutionen, die die Zweite Republik groß gemacht haben, gerade am Zerbröseln sind?

"Zerbröseln" ist nicht das richtige Wort. Wenn ich irgendwann die Zeit dazu finde, würde ich gerne darüber schreiben, warum historische Prozesse wellenförmig ablaufen. Es ist wie in der Natur: Da gibt es die Phase des Wachsens, dann folgt die Hochblüte und anschließend eine Phase, wo die Dinge schwieriger werden. Ich denke, dass die Zweite Republik am Anfang einen besonders steilen Aufschwung genommen hat, weil alles in Trümmern lag. Dann kam die Periode, wo selbst der Papst Österreich "die Insel der Seligen" nannte. Das war zwar ein Kompliment, aber es gibt keine Insel der Seligen in der Politik. Wir haben jetzt gerade eine schwierige Phase. Sie ist zweifelsfrei viel diffiziler als vor 20 oder 30 Jahren. Die Gründe dafür sind die globalen Veränderungen, die jüngste Wirtschafts- und Finanzkrise, dazu kam die Flüchtlingskrise, und es existieren gewisse Ermüdungserscheinungen in gewissen Institutionen. Ich denke nicht, dass die Institutionen zerbröseln, sondern dass in Europa eine Phase herrscht, wo es eine besondere Anstrengung braucht, um gegen krisenhafte Entwicklungen anzukämpfen.

Sind Europas Demokratien stark genug, die Krise zu bewältigen?

Ja. Die Demokratien haben genug Lebenskraft. Es gibt keinen Grund, die demokratischen Systeme als solche infrage zu stellen. Aber innerhalb des demokratischen Rahmens sind die Aufgaben, die heute zu bewältigen sind, härter geworden. Gleichzeitig sind die Erwartungen nicht kleiner geworden – ganz im Gegenteil. Daraus ergibt sich eine Schere, die die Unzufriedenheit anwachsen lässt. Die großen Aufgaben der nächsten 20 Jahre werden folgende sein: Erstens die Situation genau und ungeschminkt zu analysieren. Zweitens keine billigen Parolen zu offerieren, die an den Kern des Problems nicht heranreichen. Und drittens die richtigen Schlussfolgerungen nicht nur zu ziehen, sondern auch zu realisieren. Es wird viel Anstrengung und Leistung in Politik und Wirtschaft notwendig sein.

Was waren die Erfolgsstränge der 2. Republik?

Zunächst einmal, dass man aus Fehlern der Ersten Republik gelernt hat. Dadurch konnte man Vertrauen in den Neubeginn nach 1945 aufbauen. Dieses Vertrauen wiederum wurde als Bekräftigung für den eingeschlagenen Weg empfunden. Dadurch war die Zweite Republik in den ersten Jahrzehnten psychologisch gut eingestellt. Die ersten 50 Jahre sind gut gelaufen und haben uns sehr, sehr weit gebracht. Aber auch damals war nicht alles eine "gemähte Wiese". Auch damals hat man über die Parteien geschimpft. Werfen Sie einen Blick in alte Zeitungsausgaben. Die Wahlkämpfe zwischen SPÖ und ÖVP wurden nicht mit Samthandschuhen geführt. Auf der einen Seite gab es den Kommunismusverdacht, auf der anderen Seite gab es die Kritik an den ehemaligen Hahnenschwänzlern; also den Vorwurf, was das autoritäre System nach 1933 verbrochen hat. Aber die härtesten Wahlkämpfe haben nichts daran geändert, dass man das Gefühl hatte, es gibt keine Alternative zur Zusammenarbeit. Die beiden Großparteien hatten mehr als 90 Prozent der Wählerstimmen, und die weltweite Konjunktur gab ihnen den nötigen Rückenwind.

Seit dem ersten Wahlgang bei der Bundespräsidentenwahl orteten manche Kommentatoren schon das Ende der Zweiten Republik. Ist das Kommentatoren-Prosa?

Der Begriff Zweite Republik ist damit verbunden, dass es 1945 eine Stunde null gab. Ich bin überzeugt, dass es in diesem Jahrhundert keine zweite Stunde null mehr geben wird und darf. Deswegen wird der Begriff Zweite Republik bleiben können, aber es wird sich vieles verändern. Es ist bereits der Zeitpunkt gekommen, wo ein Bundespräsident nicht von den sogenannten "großen Parteien" kommt. Es wird eines Tages auch der Zeitpunkt kommen, wo auch der Regierungschef weder der SPÖ noch der ÖVP angehört oder wo eine Frau Bundespräsidentin wird. Das alles ist in einer Demokratie inbegriffen. Aber es muss eine Demokratie bleiben.

Gehen wir zu Ihrer persönlichen Bilanz. Sie wirken in den letzten Wochen auffallend locker. Fühlen Sie sich erlöst?

Nein. Ich habe die Aufgaben des Bundespräsidenten als etwas Spannendes und Schönes empfunden, das ich in meinem Leben nicht missen möchte. Locker bin ich deshalb, weil alles in allem gut gegangen ist. 50 Jahre ununterbrochen in politischen Funktionen zu sein, ist ja nicht gerade eine kurze Zeit. Da darf man am Ende schon einmal erleichtert durchatmen.

Vergangenen Sonntag gab es im Burgtheater zu Ihren Ehren eine Matinee. Warum wünschten Sie sich, dass der "G’schupfte Ferdl" gespielt wird?

Der G’schupfte Ferdl war eines der Lieder, die den Zeitgeist in der frühen Zweiten Republik gut widergegeben haben. Ich habe dieses Lied relativ oft gehört und konnte den Liedtext von Gerhard Bronner auswendig. Viele Jahre später, Anfang der 2000er-Jahre, gab es ein Abendessen bei Rudolf und Agi Buchbinder, wo auch Bronner eingeladen war. Nach dem Dessert setzte er sich ans Klavier spielte seine Hits. Auch den G’schupften Ferdl. Obwohl ich ein ausgesprochen schlechter Sänger bin, habe ich bis zur letzten Zeile mitgesungen. Das hat ihm gefallen. Am Ende meinte er: "Du, ich feiere im Herbst im Wiener Konzerthaus meinen 80. Geburtstag. Und ich weiß schon, was ich mir wünsche – DU singst mit mir den G’schupften Ferdl!" Ich lehnte rigoros ab: "Das kommt nicht infrage. Ich kann nicht singen und ich werde nicht im Konzerthaus auftreten." Für mich war die Sache damit erledigt.

Und Bronner akzeptierte Ihre Absage?

Er interpretierte das völlig anders. Er dachte, ich ziere mich nur ein bisschen, aber ich werde das schon machen. 14 Tage vor dem Konzert rief er mich an. "Wenn du willst, machen wir uns einen Termin für eine Probe aus." Ich lehnte abermals ab und bat ihn, sich das aus dem Kopf zu schlagen. Mit einer bösen Vorahnung ging ich zu dem Konzert – wo Bronner doch prompt ankündigte, dass er sich schon auf den Höhepunkt des Abends freue, wo er den G’schupften Ferdl spielt. Es wird eine große Überraschung geben, wer als Sänger dieses Liedes auftreten wird, meinte Bronner. Ich bin buchstäblich in meinem Sessel versunken. Ich wusste nicht, was ich tun soll. Dann kam der Programmpunkt. Bronner ließ nicht locker und meinte: "Jetzt sind wir beim Höhepunkt angelangt und ich freue mich, dass sich jetzt gleich jemand melden wird, der den G’schupften Ferdl singen wird. Ich bitte ihn auf die Bühne ..." Ich wurde immer kleiner in meinem Sessel (lacht). Bronner schaute in die Reihen, alle Gäste schauten sich im Saal um. Nach endlosen Sekunden kam dann die Erlösung mit Bronners Worten "Ich fürchte mein Ehrengast ist indisponiert. Na, dann werde ich es halt selber singen." Diese seelische Not werde ich nie vergessen.

Es wurde kritisiert, dass Sie als Bundespräsident aktiver hätten sein können. In welchen Situationen würden Sie lauter Ihre Stimme erheben?

Natürlich kann man mit unterschiedlichen Amtsauffassungen dieses Haus betreten. Im Wahlkampf haben wir ja gesehen, was da alles angekündigt wurde. Nach dem Motto: "Ihr werdet euch noch wundern." Ich habe darauf Wert gelegt, dass man sich eben nicht wundern muss. Bei mir stand immer die Überlegung im Vordergrund: Was muss ein Bundespräsident tun, um seine Aufgaben bestmöglich zu erfüllen? Das ist ganz etwas anderes, als sich ein Oppositionspolitiker erhofft oder erwartet. Denn da ist die Erwartung auf grelle Akzente gerichtet. Ich glaube aber, der Bundespräsident sollte das Gegenteil tun – nämlich überlegt und seriös formulieren.

Welche Pläne haben Sie nach dem 8. Juli?

Ich will ab dem 9. Juli nicht nur zu Hause sitzen. Ich werde mich weiter mit der res publica beschäftigen, ich werde Vorlesungen an der Universität Innsbruck halten, dann werde ich mich um die Staatsjubiläen "100 Jahre Republik" und "70 Jahre Anschluss" in Zusammenarbeit mit dem Haus der Geschichte kümmern. Es wird mir bestimmt nicht langweilig werden.

Sie sind nun 50 Jahre in der Politik und in zwei Jahren 50 Jahre verheiratet. Wie schafft man das?

Es gibt kein Patentrezept. Bei uns gilt der Grundsatz: "Es gibt der nach, dem es leichter fällt" – und da muss man dann nur mehr diskutieren, wem es leichter fällt. Wenn es mir leichter fällt nachzugeben, dann ist es Ehrensache nachzugeben – und umgekehrt.

Ist Ihr Geheimnis vielleicht auch, dass Sie jeden Monat mit Ihrer Frau Hochzeitstag feiern?

Wir feiern unseren Hochzeitstag jeden Monat am 20. Das hat sich schon bewährt in den 573 Monaten seit unserer Hochzeit. Das weiß auch mein Büro. Die halten mir den Abend frei. Auch unser Sohn hat an einem 20. geheiratet, weil er meinte, das ist ein gutes Datum.

Bruno Kreisky wird folgendes Zitat über Sie nachgesagt: "Aus dem Heinzi wird noch was. Immer wenn’s schwierig wird, ist er am Klo und kommt erst zurück, wenn die Sache ausgestanden ist."

Das hat Bruno Kreisky selbstverständlich nicht gesagt, und hätte er auch nicht sagen können. Im Parlamentsklub habe ich den Vorsitz geführt, da konnte ich bei Abstimmungen gar nicht abwesend sein. Im Plenum des Nationalrates ebenso. Auch im Parteipräsidium habe ich ab der Ära Sinowatz meistens Vorsitz geführt. Ich bin bombensicher, das hat jemand böswillig erfunden, und ich glaube auch zu wissen, wer das war. Aber diese Person lebt nicht mehr. Deswegen zucke ich mit den Achseln. In der Politik gibt es nun einmal üble Nachrede. Ich kann mich ja glücklich schätzen, dass nur ein blödsinniger Satz erfunden wurde und nichts Schlimmeres. (lacht)

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