Wie unpolitisch sind die Jungen wirklich?

Wie unpolitisch sind die Jungen wirklich?
Statt Verantwortung in der Gesellschaft oder im Job zu übernehmen, ziehen sich viele junge Menschen in ihr Privatleben zurück. Eine Suche nach Antworten.

Die Empörung der Jungen war groß, als Großbritannien Ende Juni für einen Austritt aus der EU stimmte: Die Alten hätten über ihre Zukunft bestimmt, obwohl sie sie selber wahrscheinlich gar nicht mehr erleben würden, so der allgemeine Tenor der unter 30-Jährigen. Später stellte sich heraus, warum es trotz jugendlicher EU-Euphorie zu einem Brexit gekommen war: Nur 58 Prozent der 25- bis 34-Jährigen waren wählen gegangen, von den 18- bis 24-Jährigen sogar nur ein Drittel. Nicht die Alten waren also schuld am Wahlausgang – sondern die Jungen, die mehrheitlich auf den Gang zur Urne verzichtet hatten.

Die Wahlbeteiligung in Großbritannien ließ eine alte Debatte über die sogenannte "Generation Y" wieder aufleben: Die zwischen 1985 und 2000 geborenen seien angepasst, verwöhnt, spießig, mutlos und vor allem unpolitisch. Während ihre (Groß-)Elterngeneration Ende der Sechzigerjahre regelmäßig auf die Straße ging und gegen bestehende Konventionen rebellierte, machen es sich junge Erwachsene heute lieber in ihrem privaten Schneckenhaus gemütlich. Rebellion – wo bist du geblieben?

Wunsch nach Halt

"Du wirst nicht enttäuscht, wenn du nie etwas erwartest, und bevor du etwas falsch machst, dann mach mal lieber gar nichts" – diese Zeilen aus einem Lied der deutschen Band Kraftklub könnten ebenso gut aus der jüngsten Jugendstudie von Bernhard Heinzlmaier stammen. Der Jugendforscher beschäftigt sich seit Jahren mit den Wünschen und Sorgen von Heranwachsenden. In den Umfragen von 2016 mit mehr als tausend österreichischen jungen Menschen stach eine Zahl hervor: 75 Prozent sehnen sich nach einem Halt im Leben – nach einem verlässlichen Lebensentwurf, einer planbaren Zukunft. "Die jungen Leute sind auf der Suche nach einem sicheren Grund unter ihren Füßen", konstatiert der Forscher. "Alles ist schnell und flüssig, nichts hat Bestand. Es ist schwierig, vom Status Quo auf die Zukunft zu schließen. Das ist das Grundgefühl der Generation."

Wie unpolitisch sind die Jungen wirklich?
Round Table zum Thema "Junge Selbstständige".

Schuld sind nicht zuletzt die vielen Krisen, mit denen die "Millennials" aufgewachsen sind: Zuerst 9/11, dann die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise, weitere Terroranschläge, Bildungskrise, EU-Krise, Euro-Krise. Heinzlmaier: "Die jungen Menschen leben in einer permanenten Krisensituation, jeden Tag wird ihnen von einer neuen berichtet. In so einer Phase der totalen Unsicherheit kann es keine Aufbruchstimmung geben." Die Jungen, so der Jugendforscher, hätten den Glauben an die Gesellschaft verloren. "Sie glauben nicht, dass sie etwas bewirken können, Politik interessiert sie nicht. Das Einzige, was sie selber beeinflussen können, ist das individuelle, private Leben – sei es die Familie, Freunde oder der Körper."

Mitmachen statt zusehen

Julian Schmid sieht das anders. Der 27-Jährige sitzt als jüngster Nationalratsabgeordneter für die Grünen im Parlament. Er ist überzeugt, dass junge Menschen mitbestimmen können – allerdings müsse man sich erkämpfen, dass die Politik an die eigene Zukunft und an Themen denkt, die einem als Junger wichtig sind. "Es stimmt schon, dass Krisen einschüchtern. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass die Dinge besser werden, wenn man sich selbst herausnimmt."

Wie unpolitisch sind die Jungen wirklich?
Julian Schmid, privat

Dennoch: Ihr Wahlrecht nutzen auch hierzulande nicht alle. 16-jährige Erstwähler gehen seltener zur Wahl als der Durchschnitt, zeigte eine Studie von 2013. Was macht Politik in den Augen der Jungen so unattraktiv? Schmid: "Viele haben das Gefühl, die Politik ist wie ein Karussell – man steht außerhalb und schaut zu, wie es sich um sich selber dreht. Das stimmt auch. Die alte Politik denkt zu kurzfristig, schaut nur auf die nächste Wahl – das turnt ab. Macht es aber nicht weniger wichtig, dass man aktiv wird."

Gesellschaftliches Engagement bedeutet heute nicht mehr unbedingt, einer Partei beizutreten, sondern auch NGOs oder Vereinen. "Wenn Interesse da ist, ist das schon einmal gut", so Schmid. Bei der Flüchtlingsthematik und Bundespräsidentenwahl haben sich viele aktiv beteiligt, berichtet der 27-Jährige. Er sieht sogar eine Art Wende zur Repolitisierung der Jungen. Das zeigte sich auch bei der Zentralmatura. "Noch nie wurde, vor allem von Schülern, so viel über unser Bildungssystem diskutiert. Das ist eine Generation, die sich Gedanken macht und das System ändern will."

Apropos Schule: Manche orten hier die Wurzel allen Übels, wo Kinder früh lernen, sich einem standardisierten System anzupassen. Gleichzeitig wird der Ruf nach kritischen, neugierigen und engagierten jungen Menschen immer lauter.

Das spießt sich, ist Familienpsychologin Theresia Kosicek (www.psyconsult.at) überzeugt. "Die Aufforderung: ‚Spure so wie das System es will und hinterfrage gleichzeitig kritisch!‘ zu erfüllen, ist schwierig." Für die Expertin stellt sich die Frage: "Darf ich in diesem Bildungssystem, das Menschen ‚bildet‘, tatsächlich überlegen, was mir Freude macht, was mich erfüllt – oder werde ich angehalten, mir zu überlegen, was mich am ehesten vorwärts bringt? Und oft sind es nicht die Worte, die Kinder hören, sondern die Rahmenbedingungen, Zugangsbestimmungen zu Ausbildungen oder Benotungsschlüssel, die ihnen ‚beibringen‘, was zählt."

Wie unpolitisch sind die Jungen wirklich?
Stock-Fotografie-ID: 57589256 Hipster - Person, Luftballon, Farbbild, Färbemittel, Mode, Menschen, Vorstellungskraft, Hut, Lebensstil, Vertikal, Studioaufnahme, Innenaufnahme, Profil, Gelockt, Halten, Grün, Gelb, Hoffnung, Türkis, Schönheit, Teenager-Alter, Erwachsene Person, Junger Erwachsener, Freisteller, Neutraler Hintergrund, Gefärbtes Haar, Grünes Haar, Junge Frauen, Weiblicher Teenager, Model, Porträt, Fotografie, Weiblichkeit, Weißer Hintergrund, Schöne Menschen, 2015, Attraktive Frau

Marktkonform gemacht

An den Universitäten ist es nicht anders. Die Journalistin und Uni-Dozentin Christiane Florin kritisiert in der Süddeutschen Zeitung, dass Studenten marktkonform gemacht werden. "Studenten und Uni-Betrieb haben sich dem angepasst, was der Arbeitsmarkt von ihnen fordert." Viele haben Auslandserfahrung, zig Praktika hinter sich, sammeln Zusatzqualifikationen – ihre Lebensläufe sollen unverwechselbar sein, authentisch rüberkommen. "Aber sie wirken fremdgesteuert, wie Authentizitätsdarsteller", resümiert Florin. Sie vermisst an ihnen Neugier und Lust an der Diskussion. Von Rebellion sind sie ohnehin weit entfernt, würde so mancher Alt-68er sagen.

Doch wogegen eigentlich rebellieren? Die Mehrheit der Jugend hat eine behütete Kindheit mit allen Freiheiten erlebt. "Gott sei Dank mussten wir nicht mehr mit dem aufwachsen, was unsere Elterngeneration teils noch erlebt hat", sagt Politiker Schmid. Sprüche von Alt-68ern kennt er gut, einige davon kamen auch von seinem Vater. Politisiert hat ihn aber etwas anderes: In seiner Schulzeit in Kärnten erhöhte die dortige Kantine ihre Preise, Supermarkt war keiner in der Nähe. Die Schüler des Gymnasiums am Lande hatten keine Alternative. Aber Schmid hatte eine Idee: Er mobilisierte Schüler, sie boykottierten die Kantine. Nach einigen Tagen rief der Betreiber an, setzte sich mit den Schülern an einen Tisch und verhandelte. "Das war das erste Mal, wo ich gemerkt habe, okay, du kannst etwas verändern."

Angst vor Veränderung und die Suche nach Orientierung dominieren heute dennoch die Denkweise vieler junger Menschen. Vermeintliche Sicherheit finden sie im Privaten: 2015 wurden um neun Prozent mehr Ehen geschlossen als im Jahr davor. 40.812 Eheschließungen gab es vergangenes Jahr in Österreich – so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Hochzeit, Wohnung, Auto, Familie, Urlaube: Was medial gerne als Rückzug ins Biedermeier-Zeitalter bezeichnet wird, gefällt nicht allen. So mancher Arbeitgeber hat ein Problem mit den Ansprüchen und Forderungen der Berufseinsteiger.

Generation Feelgood

Privates vor Beruflichem – den Wunsch der Jungen kennt Haubenkoch Konstantin Filippou, 35, nur zu gut. Im Zusammenhang mit den jungen Erwachsenen, die sich in seinem Restaurant bewerben, spricht er von der "Generation Feelgood": "Ich höre oft, da kann ich nicht, da muss ich zu einer Geburtstagsfeier. Dieses von Haus aus Abblocken, dieses Nein zu ein bisschen Mehr, verwundert mich." Viele würden nicht erkennen, dass die Arbeitswelt nicht nur aus Spaß bestünde. "Sie wissen sehr genau Bescheid über ihre Rechte – nicht aber über ihre Pflichten." Junge Angestellte würden nach sechs Stunden Arbeit bei vollem Haus eine Rauchpause verlangen – der Unternehmer sieht das kritisch. "Viele denken, ich sei der verkorkste Altmodische, der ‚einmal chillen‘ soll. Sie erkennen nicht, dass eine Konfrontation nicht immer die Schuld des anderen sein muss – sondern ein Grund zur Selbstreflexion."

Wie unpolitisch sind die Jungen wirklich?
Konstantin Filippou, in seinem Restaurant

Auch Heinzlmaier attestiert der "Generation Y" fehlende Opferbereitschaft. "Niemand will sich mehr aufopfern für eine Belohnung, die er womöglich eh nicht bekommt. Das Leben findet im Hier und Jetzt statt." Das mag auch an den Gehältern liegen: Die Millennials sind die erste Generation, die beim Berufseinstieg weniger verdient als die Generation zuvor, belegt eine aktuelle britische Studie. Eine junge Twitter-Nutzerin brachte das Dilemma auf den Punkt: "‚Die Jungen heutzutage haben es zu einfach‘ sagte die Generation, die mit 21 Jahren von einem Durchschnittslohn ein Haus bauen konnte." Überstunden auf Kosten des Familienlebens sammeln und jeden Cent auf die Seite legen erscheint vielen nicht mehr attraktiv.

Haben die Eltern also eine überbehütete Generation erzogen? Oder ist das verschulte Bildungssystem – immer mehr Regeln, Vorgaben und Hilfestellungen – schuld?

Verantwortung

Familienpsychologin Theresia Kosicek ist überzeugt, dass eigenverantwortliches Denken und Handeln gelernt werden muss. "Je mehr Kinder und Jugendliche – weder unter- noch überfordernd – unterstützt und gecoacht werden, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln, desto höher ist die Chance, dass sie es lernen."

Und eines Tages zu kritischen Denkern werden. Denn auch wenn die Großeltern- und Elterngeneration grundlegende Rechte erkämpft hat, braucht es nach wie vor gesellschaftliches Engagement. Es gibt viele Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt, ist Politiker Julian Schmid überzeugt. Zum Beispiel für Demokratie, "denn die hängt an einem seidenen Faden, wie aktuell das Beispiel der Türkei zeigt". Genauso wie für den Klimawandel oder das Bildungssystem. Wer auf gewisse Standards auch in Zukunft nicht verzichten will, müsse bereit sein, etwas dafür zu tun. Oder, wie es Schmid formuliert: "Manchmal muss man alles ändern, damit die Dinge bleiben, wie sie sind."

Das Brexit-Beispiel zeigt seiner Meinung nach, wie schnell sich Bestehendes verändern kann, wenn sich zu viele in ihr gemütliches Schneckenhaus zurückziehen. Und wie man weiß, war diese Erkenntnis für die britische Jugend besonders bitter.

Kommentare