Der neue Klassen-Wahlkampf

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Die Mindestsicherungs-Bezieher werden mehr – Flucht in die soziale Hängematte?

Vor wenigen Monaten erst, erzählt Kristina, 23 Jahre alt, sei ihr bewusst geworden, in welch prekärer Situation sie sich befindet. „Ich bin aufgewacht und hab’ bemerkt, dass ich so nicht leben kann.“ Kein Job, keine Ausbildung, zwei kleine Kinder, ein Kindesvater, der keine Alimente zahlt, kein Geld – und keine Perspektive.

Falle Alleinerzieher

Die Handelsschule hat sie abgebrochen. „Ich war jung und irrsinnig dumm. Ich dachte, es geht auch anders. So wird man zum Sozialfall“, weiß sie jetzt. Lange hat sie von der Notstandshilfe leben müssen, bis sie vor wenigen Monaten über das Programm „jobStart“ einen Arbeitsplatz bei der Gebraucht-Möbelbörse „Carla“ der Caritas gefunden hat. Jetzt arbeitet sie 30 Stunden pro Woche. Was ihr zum Leben fehlt, wird vom Staat über die „Bedarfsorientierte Mindestsicherung“ dazu gezahlt. Sie muss mit knapp 1220 Euro pro Monat auskommen.

Kristina ist alles andere als ein Wiener Einzelfall: Knapp 22.500 Alleinerzieherinnen bekommen über die Mindestsicherung einen Ausgleich auf den Minimalbezug, der sich nach der Familiengröße richtet. Ohne Kinder haben Alleinerzieher in Wien gesetzlichen Anspruch auf 794,91 Euro, mit einem Kind auf 1009,54 Euro, mit zwei Kindern auf 1224,17 Euro. Und das nur, wenn sonst kein Vermögen vorhanden ist. Und die Menschen gewillt sind, zu arbeiten.

Kristina wird noch bis Ende August bei der Caritas arbeiten. Dann, wenn alles klappt, kann sie eine zweijährige Ausbildung zur medizinisch-technischen Assistentin beginnen. „Sie hat sich toll entwickelt und ist sehr motiviert“, sagt die Chefin der „Carla“, Marianne Fritz: „Uns ist am wichtigsten, dass die Menschen wieder eine Perspektive bekommen.“

Weitaus weniger Optimismus strahlt die 52-jährige Franziska F. aus, während sie im Büro der Caritas Sozialberatung in Wien-Wieden sitzt. Der Tod ihrer Mutter vor einem Jahr, inklusive horrender Nachzahlungsforderungen der Fernwärme Wien, der Verlust ihres Jobs in einer Trafik nach einem Nervenzusammenbruch – all das hat sie zu einem Sozialfall gemacht. Kürzlich habe sie um Invaliditätspension angesucht, erzählt Frau F.

Franziska ist eine von knapp 50.000 Menschen, die alleinstehend sind und ebenfalls ein wenig Geld, in ihrem Fall 110 Euro, aus der Mindestsicherung beziehen.

Etwa mehr als 110.000 Bezieher der Mindestsicherung leben in Wien, Österreich-weit sind es rund 190.000 Menschen. Sie stehen seit Tagen im Fokus politischer Attacken von ÖVP und FPÖ (siehe links unten).

Wien wehrt sich

Dabei, sagt die Wiener Sozial-Stadträtin Sonja Wehsely, ist der Anstieg der Bezieher kein Wiener Phänomen. In Tirol war der Anstieg viel höher als in Wien. „Das ist eine skurrile Debatte, weil die ÖVP das ja mitbeschlossen hat. Und im Gesetz stand, dass man jene, die bisher nicht erreicht wurden, jetzt unterstützen kann. Es war also klar, dass mehr Menschen betroffen sein werden. Das war die Intention des Gesetzes.“

Neide-Debatte

Dazu komme, dass Bezieher einer Mindestsicherung zu einer Priorität des AMS geworden seien, mit der Idee, dass dieses Instrument ein Trampolin zurück auf den Arbeitsmarkt ist. Wehsely: „Österreichweit haben seither 19 Prozent wieder eine Beschäftigung gefunden, in Wien 26 Prozent.“ Dass es in Wien einen Missbrauch gebe, weist sie zurück: „Ich finde es widerwärtig, auf dem Rücken der Schwächsten in der Gesellschaft eine Neid-Debatte zu beginnen. Am meisten betroffen sind ja Alleinerzieherinnen mit Kindern. Und diesen Menschen Missbrauch zu unterstellen, da fehlt mir die Fantasie.“

Der neue Klassen-Wahlkampf

In den Parteizentralen gehen die Wogen hoch. „Hilfe, wenn es um Hilfe geht, aber Stopp bei Sozialmissbrauch.“ So begann ÖVP-Generalsekretär Hannes Rauch den Streit um die Mindestsicherung vor wenigen Tagen. Er bezog sich speziell auf die in Wien stark steigende Zahl von Beziehern. „Die Mindestsicherung darf keine soziale Hängematte werden. Deshalb müssen wir dort genau hinsehen, und nicht wie die SPÖ bei Sozialmissbrauch wegschauen.“

„Es ist beschämend, wenn die ÖVP nun mit Attacken gegen die Ärmsten im Wahlkampf punkten will“, konterte SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos. „Die Mindestsicherung ist ein Sprungbrett und keine Hängematte – und sie stellt einen klaren Fortschritt gegenüber dem zuvor gültigen Sozialhilfesystem dar.“ Steuerbetrug sei für Österreich ein wesentlich größeres Problem: „Auf diesem Auge ist die ÖVP blind und schützt wie immer die Reichen.“

Rauch lässt das nicht auf sich sitzen: „Wer die Sozialleistungen eines Staats ausnützt, ist mindestens so unsozial wie jemand, der seine Steuern nicht zahlt.“

Wiens Caritas-Präsident Michael Landau missfällt die Diskussion: „Wenn man sich die Statistiken ansieht, sind die Bezieher der Mindestsicherung vielfach Alleinerzieherinnen, ältere und kranke Menschen – und sehr oft auch Kinder.“

Sensibler Umgang

Im KURIER-Gespräch appelliert Landau an die Politik: „Wir wünschen uns einen viel sensibleren Umgang bei dem Thema, gerade auch, wenn es um die Schwächsten in unserer Gesellschaft geht. Wir wollen keinen Wahlkampf auf dem Rücken der Ärmsten.“ Die Betroffenen würden sich nichts sehnlicher wünschen, als eine Arbeit zu haben, von der sie leben können. Wenn jetzt „in der Hitze des Wahlkampfs“ der Mythos der sozialen Hängematte wieder aufkomme, dann schade das dem gesellschaftlichen Zusammenhang. „Und es ist nicht durch Fakten gedeckt.“ Er sehe in der täglichen Arbeit in den Sozialeinrichtungen, dass der Druck an den Rändern der Gesellschaft immer größer werde, sagt Landau. „Die Menschen ringen mit ihren Kosten. Hier von unsozialem Verhalten zu sprechen, ist einfach nur zynisch.“

Der Klassenkampf ist zurück. Reich gegen Arm, Leistung versus Sozialleistung. Der Streit um die Mindestsicherung und der Kampf gegen Reichensteuern stellen einen ersten Höhepunkt des Wahlkampfes dar. Für den Politologen Fritz Plasser gibt es gute Gründe, warum die Parteien „in die alten Ideologiemuster“ zurückfallen. Im Hinblick auf den bevorstehenden Wahlkampf bedeutet das nichts Gutes.

„Erstens geht es nach meiner Interpretation den Großparteien SPÖ und ÖVP darum, im Wahlkampf Profilschärfe zu bekommen. Und das bei einem Thema, wo viel Unzufriedenheit herrscht“, sagt Plasser. Das funktioniere am besten, wenn man dem politischen Gegner etwas vorwerfen kann – etwa zu wenig gegen Sozialmissbrauch zu tun. „In der Kritik grenzt man sich ab – und schärft das eigene Profil.“

Plasser ortet damit die „offensichtliche Strategie“, die eigene Kernwählerschaft zu mobilisieren: „Und zwar durch den Rückgriff auf alte, ideologische Feindbilder und die eigenen historischen Kompetenzen, die an stereotype Vorstellungen erinnern sollen und an das, was man mit der eigenen Partei verbindet.“ Damit soll es FPÖ-Chef Strache und Polit-Newcomer Stronach schwerer gemacht werden, sich positionieren zu können. „Die Parteistrategen versprechen sich davon, abwanderungsbereite Wähler zurückzugewinnen.“

Damit sei aber klar, dass alte Themen im Wahlkampf im Vordergrund stehen werden: „Ich fürchte, dass somit anspruchsvolle Zukunftsthemen, etwa wie sich Österreich künftig positionieren soll, auf der Strecke bleiben.“

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