Das neue Gesicht der Arbeitslosigkeit

Das neue Gesicht der Arbeitslosigkeit
Vier Betroffene illustrieren ein Massenphänomen.

Die Situation auf dem Arbeitsmarkt ist nicht schlecht, sie ist "sehr schlecht", sagt Johannes Kopf, Vorstand beim Arbeitsmarktservice AMS. Die Arbeitslosigkeit war seit 1953 nicht mehr so hoch. Es trifft alle: Motivierte, Erfahrene, Hochqualifizierte, Männer, Frauen, Junge, Alte. Die Arbeitslosigkeit dringt in die Breite und Tiefe der Gesellschaft vor.

Insofern sei jede neue Idee willkommen, jede Initiative der Bundesregierung begrüßenswert, sagt Kopf. Aber, die derzeitige Arbeitslosigkeit lasse sich mit Arbeitsmarktpolitik allein nicht senken, erklären Experten.

Es brauche schlicht und ergreifend wieder kräftiges Wachstum. Österreichs Wirtschaft lahme heuer bereits das vierte Jahr in Folge, seit 2012 liege das Wirtschaftswachstum unter einem Prozent. Der einzige Grund, warum es noch ein Beschäftigungswachstum gebe, sei der starke Anstieg bei den Teilzeitjobs, Vollzeitjobs seien längst rückläufig. In Zahlen: Ende April gab es 351.985 vorgemerkte Arbeitslose, das waren um 14,5 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. Dazu kommen aktuell 67.890 Personen in AMS-Kursen, die Arbeitslosenquote liegt bei 9,1 %.

Doch hinter jeder Statistik verbergen sich Menschen, stehen Schicksale. Der KURIER hat exemplarisch mit vier Betroffenen gesprochen. Sie wollen anonym bleiben. Ihre Geschichten erzählen vom Alltag der frustrierenden Bewerbungen, vom Leben mit sehr wenig Geld, dem Stigma des Alters. Sie erzählen aber auch von der Hoffnung auf einen neuen Job, auf Arbeit, von der man leben kann.

Am Muttertag steht Susanne L. in einem Blumenladen. Nicht um sich beschenken zu lassen, sondern um zu arbeiten. Geringfügig. Für 405,98 Euro monatlich. Das muss die dreifache Mutter. Aus existenziellen Gründen. Lediglich die Hälfte ihres einstigen Gehalts – früher als Einkäuferin, später als Leiterin der Finanzbuchhaltung – steht der studierten Betriebswirtin jetzt zur Verfügung.

Das neue Gesicht der Arbeitslosigkeit
"Die Firma, für die ich tätig war, wurde verkauft. Der neue Eigentümer entschied, die gesamte Buchhaltung auszulagern." Das ist fünf Jahre her. Jahre, in denen sie alles daransetzt, wieder angestellt zu werden. Coachings & Co. helfen nicht. "Vorstellungsgespräch bekomme ich erst gar keines," sagt die 58-Jährige. Den Job im Blumengeschäft bekam sie über private Kontakte. L. ist nicht alleine.

Sie ist eine von 153.626 Frauen, eine von 10.776 Akademikerinnen, eine von 15.542 Frauen jenseits der 55 plus, um die die Werbung als "Best Agers" buhlt und die der Arbeitsmarkt basht. Im Vergleich zum Vorjahr suchen 18,5 Prozent mehr "Frauen im besten Alter" Arbeit und finden keine. Nur Familie und beste Freunde wissen um die prekäre Situation. Wissen, was es heißt, kein Weihnachts- oder Urlaubsgeld zu bekommen und wegen der AMS-Auflage nicht wegfahren zu dürfen. "Was mir persönlich sehr leid tut, weil ich Verwandtschaft im Ausland habe." Die Erfahrung, trotz Fachwissen und Arbeitswillen nicht gebraucht zu werden. "Auf drei von zehn Bewerbungen bekomme ich eine Antwort." Absagen. "Ich bin zu alt."

Jahrelang an vorderster Front in der Tourismus-Wirtschaft. Als Geschäftsführer in Österreich und Südosteuropa. Die Branche boomt. Harald O. steht ob seiner kaufmännischen und zusätzlichen Ausbildungen im Management ganz oben und ihm alles offen. Sieben-Tage-Woche. Ein Leben aus dem Koffer mit viel Geld, wenig Zeit für die Familie, dafür SUV als Firmenauto. Der Frau und Kinder wegen nimmt sich O. eine Auszeit vom Ausnahmejob. "Damals habe ich 24 Stunden an die Arbeit gedacht, Verantwortung getragen, Leute entlassen und nicht an mich gedacht." Sein Umfeld rät ihm vom Sabbatical ab, prophezeit, dass der Wiedereinstieg schwer wird. "Ich bereue es nicht. Es war das beste Jahr meines Lebens." Das sagt O., obwohl er seit einem Dreivierteljahr keinen Job findet und weiß, dass die durchschnittliche Arbeitssuche 116 Tage dauert und Jobs in seiner Liga nicht ausgeschrieben werden.

Das neue Gesicht der Arbeitslosigkeit
Er spart jetzt bei sich, "aber niemals bei den Kindern", lebt auf kleinerem Fuß und versucht, Netzwerke aufzubauen. "Wie wichtig es ist, sich im Gespräch zu halten, auf LinkedIn oder anderen digitalen Plattformen zu sein, weiß ich erst jetzt." Das AMS helfe ihm. Auch mental. "Sie sehen mich als Kunde, nicht als Bittsteller. EUSPUG, das Europäische Service für Personalvermittlung und UnternehmensGründung des AMS, hilft mir." Wie lange Geld und Motivation ausreichen werden, weiß er nicht. Nur so viel: "Früher hatte ich 250.000 Euro im Jahr, heute brauche ich weit weniger – nur einen Job, der mich erfüllt."

Ramad S. ist 35, stammt aus dem Kosovo, und kam der Liebe wegen vor sechs Jahren nach Österreich. Heute lebt der frühere Literaturstudent, der eigentlich Lehrer werden wollte, mit seiner albanischen Frau in einer günstigen Gemeindewohnung in Wien Favoriten.

Anders kämen die beiden nicht über die Runden. Mit seinem Arbeitslosen-Geld und ihrem Gehalt als Teilzeit-Verkäuferin kommen sie jetzt zusammen auf 1500 Euro im Monat, die Wohnung kostet 400. "Normal wartest du drei Jahre Minimum. Ich nur ein Jahr, wir haben Glück", sagt Ramad S.

Das neue Gesicht der Arbeitslosigkeit
Er ist seit bald eineinhalb Jahren arbeitslos. Vorher arbeitete er drei Jahre lang in einer Reinigungsfirma, aber "das war keine Zukunft". Seit rund drei Wochen kann er einen vom AMS finanzierten Deutschkurs besuchen – "endlich", wie er sagt. Ein Jahr lang sei nichts geschehen: kein neuer Job, keine Weiterbildung, keine Perspektive.

Aber er weiß: "Die Sprache ist das Wichtigste. Ich habe viele Bewerbungen gehabt, war immer abgelehnt", sagt er im noch nicht ganz fehlerfreien Deutsch zum KURIER.

"Ich will Straßenbahnfahrer werden", nennt Ramad S. spontan als Berufswunsch. Sollte das nicht klappen, könne er eventuell noch als Verkäufer wie seine Frau arbeiten, spekuliert er.

Die Herkunft, dass er ein Zuwanderer sei, war eigentlich nie ein Problem – "wegen ausländerfeindlich oder so". Es sei generell extrem schwer, in Wien Arbeit zu finden. Für alle.

Mit Zahlen kennt er sich aus. Über drei Jahrzehnte ist Markus W. im Bankenbereich tätig. Vom Devisenhandel bis zur Kassa – er kann und kennt alles aus dem Effeff. Doch das zählt plötzlich nicht mehr. "Erst wurden Abteilungen outgesourct, wie das so schön heißt, also ausgelagert, dann Menschen durch Maschinen ersetzt und zum Schluss die ganze Firma verkauft." W. ist verheiratet, hat eine Tochter und de facto nichts mehr. "Als ich zu arbeiten begonnen habe, haben sie mich mit Handkuss genommen, aber die Zeiten sind vorbei." O. erfüllt die Ausschlusskriterien am Arbeitsmarkt: alt und veraltete Ausbildung. Ein Schicksal, das er mit 22.247 Männern zwischen 55 und 59 Jahren in Österreich teilt. Doch das Wissen hilft nicht, wenn die Bank beim Ex-Banker anklopft.

Das neue Gesicht der Arbeitslosigkeit
Kredite müssen bedient werden, doch mit welchem Geld? Der einzige Ausweg für den Langzeitarbeitslosen ist der Privatkonkurs. "Ich lebe von 900 Euro im Monat". Abschied vom alten Leben. Damit sind nicht nur materielle, sondern auch menschliche Verluste gemeint. "Dass der Freundeskreis kleiner wird, ist kein Klischee. Das tut weh. Man hat nicht arbeitslos zu sein." W. ist es. Er hat einen strengen Tagesrhythmus, "um nicht ins schwarze Loch zu fallen" und sieht trotz AMS-Schulungen – "die Kurse haben mir nichts gebracht" – keine Chance auf Änderung. "Ich bin zu alt und für viele zu teuer. Auch wenn ich auf Geld verzichten würde: Ich bekomme keinen Job." Warum? "Weil in Jobinseraten 30-Jährige mit 20-jähriger Berufspraxis gesucht werden."

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