Auf Schüssels Spur: Kanzler Mitterlehner?

Vize-Kanzler Reinhold Mitterlehner
Der Führungsanspruch war keine rhetorische Übung. In der ÖVP werden Neuwahlpläne gewälzt.

Derselbe Ort, das gleiche Setting, nur zwanzig Jahre später. In jenem Saal in der Hofburg, in dem diese Woche der ÖVP-Parteitag abgehalten wurde, rief Wolfgang Schüssel am 22. April 1995 den Delegierten zu: "Ich will mit eurer Hilfe die Nummer eins und Bundeskanzler in Österreich werden."

Am 13. Mai 2015 steht erneut ein Wirtschaftsbündler als ÖVP-Chef an dem Rednerpult und versetzt mit der gleichen Ansage die Funktionäre in Euphorie: "Wir stellen den Führungsanspruch, wir wollen für dieses Land den Bundeskanzler haben."

Bloße Parteitags-Rhetorik? Oder setzt Reinhold Mitterlehner – wie vor ihm Wolfgang Schüssel – tatsächlich alles daran, den "Vize" vor dem Kanzler los zu werden? Und welche Chancen hat er?

Zwischen Mitterlehner und Schüssel gibt es tatsächlich Parallelen. Beide kommen aus der modernistischen Ecke der ÖVP, dem Wirtschaftsbund. Beide besitzen Risikofreude. Beide sind Intimkenner der Machtmechanismen und wollen aus dem Job, der ihnen eher zufällig zufiel (beide haben sich nicht an die ÖVP-Spitze gedrängt) etwas machen. Mitterlehner will in dem dicken Verzeichnis von ÖVP-Obmännern definitiv nicht als Übergangslösung zu Sebastian Kurz abgeheftet werden. Wer Mitterlehner bei seinen Auftritten beobachtet, merkt: Er hat noch was vor.

Es gibt auch markante Unterschiede zwischen Mitterlehner und Schüssel. Während man sich den Alt-Kanzler kaum beim Bad in der Menge, und schon gar nicht einer Menge links-gesinnter Gutmenschen vorstellen konnte (dort wäre Schüssel ausgepfiffen worden), hat Mitterlehner keine Berührungsängste. Sein Statement auf dem Heldenplatz am 8. Mai war überlegt, nicht floskelhaft und mit einer Selbstverständlichkeit vorgetragen, die der ÖVP die Teilhabe an der Erinnerungskultur sichert. Ein Trotzwahlkampf für Kurt Waldheim, die Kumpanei mit Jörg Haider – das war einmal.

Anders ist auch das Verhältnis zur SPÖ. Dem Wiener Schüssel mag es einen besonderen Triumph bedeutet haben, eine stets als übermächtig empfundene SPÖ von der Regierung abzulösen. Mitterlehner ist zwar die ständige Kompromisslerei mit der SPÖ lästig, aber er ist kein Sozifresser. In seiner Heimat Oberösterreich ist der politische Wechsel geradezu ein Landescharakteristikum: ÖVP-Mehrheit bei Landtagswahlen, SPÖ-Mehrheit bei Bundeswahlen. Politische Breite statt ideologischer Enge sichert der ÖVP in Oberösterreich die Mehrheit. So war sie bei den ersten, die die konservative "Kinder gehören zur Mutter"-Politik fallen ließ und Gratiskindergärten einführte. Insofern ist es wenig überraschend, dass Mitterlehner der ÖVP ohne viel Federlesen alte Zöpfe abschneidet. Schwule zu diskriminieren, Raucher statt Nichtraucher zu schützen, Steuerhinterziehung zu bagatellisieren – alles out. Auf dem Parteitag am Dienstag gab es sogar ein Alkoholverbot – nach zehnstündiger Debatte mussten die Delegierten das scharfe Chilli-Abendessen mit Mineralwasser und Orangen-Limo löschen.

Den Modernisierungsschub verpasst Mitterlehner der ÖVP selbstverständlich nicht zum Selbstzweck, sondern mit der Absicht, mehrheitsfähig zu werden. So erklärt sich auch das ÖVP-intern umstrittene Engagement des Wirtschaftsbündlers für eine fünf Milliarden schwere Lohnsteuersenkung: ohne Arbeitnehmer-Stimmen lässt sich keine Wahl gewinnen.

Auf dem Weg ins Kanzleramt gilt es allerdings eine kleine Hürde zu überwinden: es sind keine Nationalratswahlen vorgesehen, der nächste reguläre Termin ist erst im Herbst 2018. Dass Mitterlehner noch dreieinhalb Jahre zuwartet, bis er zum Sprung ansetzt, erscheint eher unwahrscheinlich. Es empfiehlt sich daher, sich auf innenpolitische Turbulenzen einzustellen. Wer genau hinhört, kann bereits wahrnehmen, wie er den Boden für einen Scheidungskrach aufbereitet. Er wünsche sich einen "dynamischeren Koalitionspartner", sagte er am vergangenen Sonntag der Krone. "Die Zukunft wird nicht gemeistert von denen, die in der Vergangenheit leben", sagte er auf dem Parteitag über die SPÖ (Willy Brandt zitierend). Die Geschichte, die Mitterlehner den Österreichern erzählen wird, lautet in etwa so: "Macht mich zum Chef, dann bringe ich Österreich auf die Überholspur. Mit dieser reformunwilligen SPÖ bleibt Österreich auf der Kriechspur und die Arbeitslosigkeit wird weiter steigen." Als Zukunftskoalition dürfte er Schwarz-Grün-Neos in Aussicht stellen.

Die kritische Phase für die Bundesregierung fällt – wie es aussieht – in den Herbst nach den Landtagswahlen. Nach derzeitigem Umfragestand gewinnt die ÖVP bei den Landtagswahlen zwar auch keinen Blumentopf, aber die kräftigen Watschen stehen der SPÖ bevor. Die ÖVP rechnet damit, dass die SPÖ aus den Niederlagen in den Ländern Lehren ziehen und irgendwann zwischen Landtagswahlen und der nächsten Nationalratswahl Werner Faymann ablösen wird. Der Neue (Christian Kern?) würde von der SPÖ rechtzeitig ins Kanzleramt geholt werden, damit er noch einen Amtsbonus aufbauen kann. Diesen Schachzug will die ÖVP mit einer Neuwahl unterlaufen. Das Match im Wahlkampf hieße dann: Faymann gegen Mitterlehner und Sebastian Kurz. Da rechnet die ÖVP mit einem Sieg.

Der Haken an den ÖVP-Planspielen: Verzeihen ihr die Wähler, wenn es eine Neuwahl gibt? Und wie hält es die ÖVP mit der FPÖ? In den ÖVP-Reihen gibt es einige, die mit Schwarz-Blau spekulieren. Die schwarz-blaue Koalition ist jedoch wegen der vielen Skandale noch in sehr schlechter Erinnerung. Hypo-Desaster und Kärnten-Pleite sorgen überdies dafür, dass die Steuerzahler die Folgen freiheitlicher Regierungskünste nicht so schnell vergessen. Ein Wahlkampf gegen Schwarz-Blau könnte sogar die komatöse SPÖ noch einmal aufwecken.

Doch wie sagte Mitterlehner in seiner programmatischen Rede auf dem Parteitag: "Wir müssen akzeptieren lernen, dass es die Möglichkeit des Scheiterns gibt. Jedes Kind weiß: Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen."

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