Ein Land erinnert sich an Befreiung von den Nazis

Ein Land erinnert sich an Befreiung von den Nazis
Überlebende der Schoah fordern von Politikern, die Erinnerung an die Nazi-Verbrechen hochzuhalten und gegen Rassismus, Hass und Intoleranz zu kämpfen.

8. Mai 1945: Das Nazi-Regime kapitulierte bedingungslos, der Zweite Weltkrieg war offiziell zu Ende.

70 Jahre später gedenkt die Regierungsspitze heute, Freitagvormittag, der Befreiung von Terror, Faschismus, unvorstellbarer Menschenverachtung und des einzigartigen Zivilisationsbruches in der Geschichte (Artikel unten).

Ein Land erinnert sich an Befreiung von den Nazis
Vor diesem Staatsakt empfing Bundeskanzler Werner Faymann bereits am Donnerstag Überlebende der Schoah. Wie Staatsgäste wurden Käthe Sasso, Marko Feingold und Rudolf Gelbard im Steinsaal des Bundeskanzleramtes begrüßt. Ein vertrauliches Gespräch des Kanzlers mit den Zeitzeugen folgte.

Die drei KZ-Überlebenden, die sich seit der Befreiung unermüdlich in Diskussionen mit Schülern und bei Vorträgen gegen Rassismus und Antisemitismus engagieren, kamen aber nicht ohne Forderungen zum Kanzler.

Mehr tun für Juden

Marko Feingold, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg, ist sehr besorgt über den Rückgang der Zahl der Juden in Österreich. "Politiker müssen sich mehr für Juden einsetze", sagte er zum KURIER. Er glaubt zu wissen, weshalb Politiker zu wenig für Juden tun. "Sie haben Angst, dadurch Wählerstimmen zu verlieren." Die Förderung jüdischer Gemeinden in Deutschland nennt Feingold "vorbildhaft".

Ein Land erinnert sich an Befreiung von den Nazis
Käthe Sasso, die als burgenländische Kroatin das KZ Ravensbrück überlebte und der die Flucht beim Todesmarsch Richtung KZ Bergen-Belsen gelang, hat ein Anliegen: "Die Erinnerung an die Widerstandskämpfer hochzuhalten." Sie findet, dass die Regierung gerade für die Minderheiten in Österreich, wie Kroaten und Kärntner Slowenen, "in den vergangenen Jahren viel gemacht hat".

Welchen Blick werden künftige Generationen auf die Zeit des NS-Regimes haben? Wie wird sich die Auseinandersetzung mit der Geschichte verändern, wenn es die Generation der Zeitzeugen bald nicht mehr geben wird?

Rechtsextreme

Das sind die Fragen, die den Überlebenden des KZ-Theresienstadt, Rudolf Gelbard, ständig beschäftigen. "Die Gefahr ist für ihn jedenfalls noch nicht gebannt. Auch heute gibt es Tote durch Rechtsextreme", sagt der Zeithistoriker.

Bundeskanzler Faymann versprach seinen Gesprächspartnern stellvertretend für alle Opfer des Nazi-Terrors, "die Erinnerungskultur hochzuhalten und konsequent über die Verbrechen des Nationalsozialismus zu informieren, nicht nur an Gedenktagen".

Ein Land erinnert sich an Befreiung von den Nazis
Kritisch merkte er an, dass in der Vergangenheit "zu wenig darüber geredet wurde". Heute seien Rassismus, Vorurteile und Hass noch nicht ausgestorben. "Für Antifaschismus, Toleranz und Respekt in der Gesellschaft muss man sich jeden Tag einsetzen."

In Niederösterreich werden alle Glocken läuten, in Wien tritt die Regierung heute, Freitagvormittag, im Bundeskanzleramt zu einem Festakt zusammen. Umrahmt von feierlicher Musik halten Bundeskanzler Werner Faymann und Vizekanzler Reinhold Mitterlehner kurze Reden.

Für den Festvortrag konnte Marko Feingold gewonnen werden. Der 103-Jährige überlebte drei Konzentrations- und Vernichtungslager und ließ sich nach Kriegsende in Salzburg nieder, wo er Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde ist.

Nicht nur die offizielle Politik, sondern auch die ORF-Programme stehen heute ganz im Zeichen des Kriegsendes. Dabei wird auch die Rolle Österreichs am Nazismus, die abscheuliche Nazi-Ideologie, die Ermordung von sechs Millionen Juden behandelt. Die Themen reichen bis zum politischen Neubeginn Österreichs.

In Dokumentationen im Fernsehen werden Gespräche von Zeitzeugen gezeigt, die im Zuge der Dreharbeiten zu Hugo Portischs Erfolgsserie "Österreich II" entstanden sind und in dieser Form noch nie zu sehen waren.

Freitagabend um 19.40 Uhr beginnt das "Fest der Freude" am Heldenplatz. Der Ort ist bewusst gewählt und soll an den 15. März 1938, an die "Anschluss"-Kundgebung von Adolf Hitler, erinnern. Vom Balkon der Neuen Burg aus verkündete er "die Heimholung Österreichs in das Deutsche Reich". Am Heldenplatz jubelten Hitler Tausende Österreicher frenetisch zu.

Fischer am Heldenplatz

Der historische Balkon über dem Eingang der Nationalbibliothek wird auch bei der ORF-Live-Übertragung des "Festes der Freude" eine Rolle spielen. Hier werden Zeitzeugen und Historiker interviewt, die Regierungsspitze, Wiens Bürgermeister Michael Häupl kommen zu Wort ebenso wie Vertreter der Opposition. Bevor das Gratis-Konzert der Wiener Symphoniker um 20.15 Uhr beginnt, wird Bundespräsident Heinz Fischer zu den Besuchern am Heldenplatz sprechen.

Wie ein romantischer Frühlingsspaziergang – so hören sich die Erinnerungen von Igor Reformackij an: "Herrliches Wetter, Sonne, warm ... das ist ganz toll." Doch diese Mai-Sonne schien auf Trümmerhaufen, auf zerbombte Straßen, in denen noch die Leichen einer gerade erst zu Ende gegangen Schlacht lagen. Zuletzt hatten fanatische SS-Einheiten Wien verteidigt, 20.000 Menschen waren diesen sinnlosen Gefechten zum Opfer gefallen. Doch jetzt gehörte die Stadt der Roten Armee – und Leutnant Reformackij war schlicht glücklich: "Der Krieg ist aus, wir leben, sind Sieger."

In unzähligen Berichten sind diese ersten Tage und Wochen der Besatzungszeit aus Sicht der Österreicher geschildert worden. Wo die Russen einmarschierten, hinterließen sie schon bald negative Erinnerungen an Plünderung, Vergewaltigungen, aber auch an brutale Willkür und hasserfüllte Gier. Nicht umsonst war das "Uhra, Uhra", der Befehl, mit dem die Soldaten die Uhren Einheimischer an sich nahmen, noch Jahrzehnte später sprichwörtlich. Im Fall der Amerikaner dagegen ist es sehr oft die Schokolade oder die damals noch völlig unbekannten Kaugummis, die die GIs den Kindern schenkten.

Positive Erinnerungen

Aus der Sicht der Besatzer selbst hört sich das alles ganz anders an. Eine Sicht, die erst in den vergangenen Jahren von Historikern ausführlich aufgearbeitet wurde. Wie etwa von Barbara Stelzl-Marx vom Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Sie hat sich in ihrem Buch "Stalins Soldaten in Österreich" – es ist die bisher umfassendste Studie zum Thema – damit beschäftigt, wie die Rote Armee, aber auch die einzelnen Soldaten die Besatzung erlebten. In Dutzenden Gesprächen mit Kriegsveteranen, aus Briefen und anderen Originaldokumenten hat sie einen für viele Österreicher vermutlich überraschenden Eindruck gewonnen: "Die meisten sowjetischen Soldaten haben eine sehr positive Erinnerung an Österreich. Sie erinnern sich an den Frühling, an Johann Strauß, manche auch an romantische Affären."

Die Generäle hatten den ersten Kampfeinheiten, die die Grenze nach Österreich überschritten, befohlen, als Befreier aufzutreten, "das friedliche österreichische Volk" zu verschonen. Dass das nach vier Jahren Vernichtungsfeldzug von Wehrmacht und SS in Russland nicht funktionierte, dass die Truppen, die von der Propaganda gerade noch zum Kampf gegen die "faschistische Bestie" aufgestachelt worden waren, nun allerorts brutale Übergriffe verübten, ist im österreichischen Bewusstsein tief verankert.

Für die Russen aber, die oft aus abgelegenen Regionen der Sowjetunion kamen, wirkte Österreich wie ein Blick in die Zukunft: In Österreich gebe es in jedem Haus Strom, klagt ein Leutnant, während die Dörfer in seiner Heimat wohl nie elektrifiziert würden: "Hier gibt es Luster, luxuriöse Häuser, Kleidung, während meine Familie nichts anzuziehen hat." Für diese offenen Worte wurde der Offizier degradiert. So ungestraft durfte keiner den Kapitalismus loben.

Für die US-Soldaten dagegen, die in Österreich einrollten, sah das zerstörte Land ganz anders aus. "Die Landschaft ist schön, die Mädchen sind hübsch", schreibt ein GI in seinen Erinnerungen, "aber sonst gibt es hier nicht viel." Salzburg und Wien beschreibt er als "zwei der traurigsten und hungrigsten Städte in Europa." Nur in den Dörfern gebe es ein bisschen mehr Lebensfreude und Essen.

Doch Essen, das brachte die bestens versorgte US-Armee schon in den ersten Nachkriegstagen nach Österreich und zur oft ausgehungerten Bevölkerung. Abgeschnitten vom "Land der Hot-Dog-Stände und der Milkshakes", wie ein Berichterstatter ironisch vermerkt, hatten die GIs genug, um es schnell und großzügig zu verteilen. Der beste Weg, die Österreicher zu erreichen, riet das von den Amerikanern schon in den ersten Wochen installierte "Radio Rot-Weiß-Rot" den Truppen, sei durch den Magen.

Kommentare