Gross-Prozess ist nicht zu retten

Artikel vom 10. 8. 2005: Belastungen gegen den ehemaligen NS-Arzt verpuffen wegen Demenz

Nach dem Auftauchen bisher unbekannter Dokumente aus russischen Archiven könnte sich die Zahl der mutmaßlichen Tötungsdelikte, für die man den ehemaligen NS-Arzt Heinrich Gross verantwortlich macht, drastisch erhöhen. Auch könnte er eine tragendere Rolle in der NS-Tötungsmaschinerie zugewiesen bekommen. Sein damaliger Vorgesetzter in der Wiener Euthanasieklinik „Am Spiegelgrund“ gesteht in Verhörprotokollen, die Ermordung von behinderten Kindern angeordnet zu haben. Ausgeführt worden seien seine Aufträge von Heinrich Gross.

Beunruhigen muss das den 89-jährigen Gross überhaupt nicht. Es kann den im März 2000 wegen attestierter Demenz abgebrochenem Mordprozess nämlich nicht retten, egal wie viele Indizien oder Zeugenaussagen noch bekannt werden. „Laut dem bisher letzten gerichtspsychiatrischen Gutachten ist eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht mehr zu erwarten“, sagt der Sprecher des Wiener Landesgerichts, Friedrich Forsthuber. Das war vor etwa zwei Jahren. Erst wenn die Staatsanwaltschaft ausdrücklich eine neuerliche Untersuchung beantragt, wird ein weiteres Gutachten bestellt.

Das könnte – nur um die Optik zu wahren – bald der Fall sein, auch wenn der geistige Abbau des Angeklagten als irreversibel gilt. Die beiden mit dem Fall Gross befassten Staatsanwälte sind im Urlaub, auf ihren Tischen liegen die für den greisen Psychiater belastenden Aussagen des Arztes Erwin Jekelius, der 1952 in russischer Gefangenschaft gestorben ist (siehe Zusatzbericht). Die Unterlagen werden laut Ernst Kloyber, Sprecher der Staatsanwaltschaft, genau geprüft.

 

DR. SPEIBERL

In der Anklage gegen Heinrich Gross, die es nicht einmal bis zu ihrer öffentlichen Verlesung im Geschworenenprozess geschafft hat, sind neun von 700 für „lebensunwert“ erklärten und getöteten Kindern aufgelistet. Gross soll 1944 zu ihrer Ermordung beigetragen haben. Mit Tabletten wurden sie „ruhig gestellt“, mit Spritzen ihre ohnehin leeren Mägen bis zum Erbrechen gereizt, im Winter mit aufgerissenen Fenstern tödliche Lungenentzündungen herbeigeführt...

Gross war damals als „Dr. Speiberl“ bekannt, erinnern sich Überlebende. Der heutige „Tattergreis“ (so nennt ihn sein Anwalt) verteidigte sich stets damit, er habe nur Krankengeschichten geschrieben. Aber eigentlich könne er sich wegen seines steten geistigen Verfalles ja gar nicht mehr verteidigen, sagen die Gutachter. Zumindest nicht vor Gericht. In einem TV-Interview erklärte er allerdings recht frisch und munter: „Ich glaube, man könnte mir nichts nachweisen“ – und das hat er irgendwie auch geschafft.

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