"Meine größte Angst ist, dass sie meine Familie jagen werden"

Television screens show former U.S. spy agency contractor Edward Snowden during a news bulletin at an electronics store in Moscow June 25, 2013. President Vladimir Putin confirmed on Tuesday Snowden, sought by the United States, was in the transit area of a Moscow airport but ruled out handing him over to Washington, dismissing U.S. criticisms as "ravings and rubbish". REUTERS/Tatyana Makeyeva (RUSSIA - Tags: POLITICS SOCIETY)
Wie aus dem stillen Sohn eines Beamten Amerikas Staatsfeind Nummer 1 wurde. Der einsam geplante Aufbruch des Edward Snowden von Hawaii auf eine Flucht um die Welt.

Irgendwann hatte er keine Zeit mehr für Sushi und Karaoke, keinen Kopf mehr für die langen, tiefsinnigen Gespräche, draußen im unaufgeräumten Hinterhof. Lindsay Mills kommen auch heute noch die Tränen, wenn sie sich an die Monate erinnert, in denen ihr E – mehr als diesen einen Buchstaben hatte sie nie für ihn – abhanden kam. An einem Sonntag im Mai saß sie dann alleine auf Hawaii. Edwards Eltern hatten sich angesagt – doch er selbst war nicht mehr da. Edward Snowden hatte endgültig die Reißleine gezogen, war aus seinem alten Leben abgesprungen, ohne Erklärung und ohne Abschied zu nehmen. „Manchmal kann sich das Leben ordentliche Abschiede nicht leisten“, schreibt die 28-jährige Ballerina später in ihren Blog.

Zu diesem Zeitpunkt sitzt ihr Freund schon im dritten Stock eines Fünf-Stern-Hotels in Hongkong, in der Hand einen Rubick’s-Zauberwürfel. Das Lieblingsspielzeug vieler Computerfreaks außerhalb ihrer virtuellen Welten hat Snowden als Zeichen gewählt. An dem Würfel sollten sie ihn erkennen, hat er den Reportern mitgeteilt, mit denen er seine Story teilen will. Weder er noch sie wissen in diesem Moment, dass diese Story die Welt auf den Kopf stellen wird, dass sie aus dem 30-Jährigen Amerikas Staatsfeind Nummer 1 machen wird, gejagt rund um die Welt.

Perfekter, lang vorbereiteter Auftritt

„Er war überzeugt, dass seine Story große Wirkung haben würde“, erinnert sich Ewen Mac Askill gegenüber dem KURIER an die Interview-Sitzungen mit Snowden. Der 61-jährige Reporter des britischen Guardian war auf einen Mann getroffen, der ihn mit zwei Dingen völlig überraschte, mit seiner Jugend – „ich hatte einen hochrangigen Geheimdienstler in meinem Alter erwartet“ – und mit der punktgenauen Perfektion seines Auftrittes: Vier Computer, vorgefertige Kopien der Schlüsselpassagen aus den Dokumenten, detaillierte und präzise Antworten auf jede Frage, die die Reporter stellen.

Snowden bleibt in all den Stunden, in denen der Skandal Datei für Datei über den Tisch wandert, ruhig und gelassen. Er hat sich lange auf diesen Auftritt vorbereitet, inhaltlich und auch menschlich.

Langsam und vorsichtig hatte sich der ruhige, oft nachdenkliche Computerfreak aus einem seiner Leben gelöst. Das andere aber, das hatte immer schon daneben existiert: Die digitale Welt, in die sich der schwierige Schüler ständig zurückzog. Mit dem Computer sei er verwachsen gewesen, erinnern sich Verwandte an den Teenager. Damals verschwand er noch in der digitalen Welt, um dort japanische Computerspiele zu spielen. Auch einen Avatar, also ein digitales alter Ego, legte er sich zu. Es sieht aus wie all die eiskalt niedlichen Anime Pixelmännchen, die diese japanischen Spielewelten bevölkern.

Doch Snowden will bald nicht mehr vor der Welt flüchten, er will sie verbessern – und zwar auf eigene Faust. „KIuge Köpfe brauchen keine Universität“, schreibt der Schulabbrecher trotzig ein paar Jahre später:„Sie bekommen, was sie wollen, und hinterlassen still ihre Spuren in der Geschichte.“

Still und allein, so will der Sohn eines Beamten aus North Carolina die Welt verändern. Einer wie er schließt sich keiner Bewegung an, folgt keinen vorgefertigten Ideologien. Dafür aber läuft er immer und immer wieder in die Irre. Snowden geht zur Armee, will im Irak für die Freiheit Amerikas kämpfen. Nur, dass er sich im Training beide Beine bricht, rettet ihn vor dem Abflug an die Front. Er sattelt um, will sich von jetzt an lieber auf seinen Kopf verlassen als auf seinen dürren Körper, den er in neurotischer Selbstverliebtheit als „mädchenhaft“ beschreibt.

Doch um dorthin zu kommen, wo er eigentlich hinwill, muss er als Schulversager einige Umwege gehen, Über eine Sicherheitsfirma, die für die CIA arbeitet, schafft er es zum US-Geheimdienst. Bald ist er Netzwerktechniker bei der NSA, höchste Sicherheitsstufe, Zugang zu allen geheimen Daten.

Die Wut kocht hoch

Wann sich sein Blick auf diese Daten verändert hat, weiß nur Snowden alleine. Irgendwann beginnt er seiner Wut Luft zu machen. „Diese Gesellschaft hat offenbar blinden Gehorsam gegenüber Spionen entwickelt“, schreibt er: „Wir sind da hineingerutscht, obwohl wir es hätten verhindern können.“

Verhindern, dafür ist es zu spät. Dagegen kämpfen aber, das ist seine Rolle, sein Auftritt als Held, wie einst in den Computerspielen.

Er zieht es durch: Von den nächtlichen Daten-Raubzügen im Netzwerk der NSA bis nach Hongkong, in den dritten Stock des Hotels. Nur manchmal holt ihn die reale Welt ein, taucht aus dem Helden, der zornige, ängstliche Bub auf, der über sich selbst sagt, dass er „als Kind nicht genug umarmt“ wurde:„Ich habe keine Ahnung, wie meine Zukunft aussehen wird, aber meine größte Angst ist , dass sie meine Familie jagen werden, meine Freunde, meine Partnerin. Aber damit werde ich den Rest meines Daseins leben müssen. Ich werden nie mehr Kontakt zu ihnen haben.“

Ewen Mac Askill (61) ist langjähriger Leiter des Washingtoner Büros der britischen Tageszeitung The Guardian. Er war einer der drei Journalisten, denen Snowden in Dutzenden Interviews, die sich über eine ganze Woche erstreckten, seine Enthüllungen über die NSA anvertraute.

KURIER: War sich Snowden bewusst, was seine Story auslösen würde?

Ewen MacAskill: Er wirkte überzeugt, dass die Story, die er aufdeckte eine große Wirkung haben würde. Ich und mein Kollege Glenn Greenwald waren skeptischer. Wir dachten, dass das gute Geschichten wären, aber nicht dass sie die Menschen so sehr aufregen und so riesige globale Storys werden würden. Snowdens Hoffnung und sein Anliegen war es, dass sie eine Debatte über Überwachung auslösen würden, und er war sicher, dass das auch passieren würde.

Das ganze Interview lesen Sie in der KURIER-Sonntagsausgabe oder ab 19 Uhr als ePaper.

Immer neue dramatische Enthüllungen liefern die Daten und Dokumente, die Edward Snowden an die Öffentlichkeit gebracht hat. Wie das Magazin Der Spiegel berichtet, soll die NSA sogar gezielt Einrichtungen der EU in den USA bespitzelt haben. So wurden EU-Botschaften bei der UNO verwanzt und die Computernetzwerke infiltriert.

EU-Politiker reagierten empört. Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn etwa forderte gegenüber „Spiegel Online“, die EU müsse nun „von allerhöchster Stelle eine Garantie bekommen, dass das sofort aufhört“. Der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz forderte genauere Informationen. „Aber wenn das stimmt, ist es ein Riesenskandal“, sagte Schulz. Dies bedeute eine große Belastung für die Beziehungen der EU und der USA. „Wir verlangen jetzt umfassende Aufklärung.“ Das Europaparlament will bei seiner Plenartagung in der kommenden Woche über Konsequenzen aus der NSA-Affäre beraten. Die neuen Enthüllungen dürften dabei für weiteren Zündstoff sorgen.

Falle Internet

Als Mitarbeiter eines Vertragspartners des US-Militärgeheimdienstes NSA hatte Edward Snowden nahezu uneingeschränkten Zugriff auf sensible Daten, geheime Programme und Pläne des Spionage-Apparats. Diese lasche Kontrolle – Snowden selbst zeigte sich entsetzt, was er als IT-Techniker einsehen konnte – nützte der 30-Jährige und kopierte die Informationen.

Dass Geheimdienste Telefonate und Internet überwachen und mittels Hightech Bürger bespitzeln, ist seit Jahrzehnten offenes Geheimnis. Durch Snowden wurde das Ausmaß bekannt.

Aus den Dokumenten des Whistleblowers erfuhr die Öffentlichkeit vom Überwachungsprogramm PRISM. Dieses erlaubt es der NSA, unkompliziert auf alle Daten bei Facebook, Google, Microsoft und anderen großen IT-Firmen zuzugreifen. eMails, Fotos, Skype-Gespräche, Dokumente – alles, was auf den populären Diensten der US-Firmen gespeichert ist, kann von der NSA eingesehen werden. Freizügigkeit und Selbstdarstellungsdrang in sozialen Netzwerken spielt den Geheimdiensten hier in die Hände.

Auch eMails, die nicht über die Gratis-Dienste der IT-Firmen laufen, werden durchleuchtet. Hilfe bekommen die Behörden durch US-Mobilfunker und Internet-Anbieter, die Zugriff auf ihre Leitungen gewähren. Bis dato wurden eine Billion Datensätze verarbeitet. Mit dem Programm EVILOLIVE werden die Kapazitäten weiter ausgebaut.

Weiters kam ans Licht, dass Länder wie etwa Belgien oder die Niederlande Zugriff auf PRISM haben. Auch dass das FBI, das die weltweit größte Datenbank für Fingerabdrücke und Gesichter betreibt, im eigenen Land Bürger mittels Flugdrohnen überwacht, wurde publik.

Für Staunen sorgte in der Diskussion um die Big-Brother-Methoden auch US-Präsident Barack Obama, der sich vor seinem Amtsantritt noch vehement gegen die Methoden der Geheimdienste ausgesprochen hatte, die Überwachungsaktionen mittlerweile aber fördert. Dies lässt das freundschaftliche Verhältnis zwischen dem Staatsoberhaupt und den Chefs der IT-Firmen in einem neuen Licht erscheinen. Der Ex-Facebook-Sicherheitschef arbeitet etwa für die NSA.

Kleiner Bruder

Im Trubel um die groß angelegte Internet-Bespitzelung der US-Behörden ging eine weitere Enthüllung von Snowden fast unter. Seine Informationen dokumentierten, dass Großbritannien ebenfalls im großen Stil überwacht.

Zusätzlich werden 200 Glasfaser-Kabel, die den weltweiten Internet-Verkehr zwischen Ländern und Kontinenten regeln, abgehört. Bis dato wurden 600 Millionen „Telefon-Ereignisse“ erfasst. Im Umfeld dieser Enthüllungen wurde auch bekannt, dass die Polizei in England ein ausgefeiltes Analyse-Tool für soziale Netzwerke betreibt. Im bis dahin geheimen SOCMINT-Programm wird jede Unterhaltung britischer Bürger im Internet überwacht. Sind Unruhen oder Aufstände am hoch kochen, schlägt das System Alarm.

Kommentare