Warum Erdogan auch den "Good Guy" gibt

Im Mai 2016 kamen um 92 Prozent weniger Russen in die Türkei
Das Tauwetter mit Russland und Israel hat handfeste ökonomische Gründe

Um starke Worte ist der türkische Staatspräsident nie verlegen, umso bemerkenswerter sind die jüngsten Schalmeientöne Recep Tayyip Erdogans – zumindest in zwei bestimmte Richtungen.

Zunächst zu Russland, mit dem Ankara seit November 2015 im Clinch liegt. Damals hatte die Türkei einen russischen Kampfjet, der Angriffe gegen Rebellen-Stellungen in Syrien flog, an der Grenze abgeschossen. Moskau verhängte daraufhin Sanktionen, unter anderem wurden alle Urlauber-Charterflüge eingestellt. Jetzt bedauerte das türkische Staatsoberhaupt den Zwischenfall, der Kreml akzeptierte, und schon heute soll es zwischen Erdogan und dem russischen Präsidenten ein Versöhnungstelefonat geben.

Russische Urlauber bleiben aus

Die Hoffnung in Ankara: dass endlich wieder Touristen aus dem Nachbarland kommen. Alleine im Mai ist deren Zahl im Vergleich zum Mai 2015 um 92 Prozent eingebrochen. Im Gesamtschnitt lag dieser Rückgang, auch wegen Terroranschlägen, bei 23 Prozent. Dabei trägt der Tourismussektor 13 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei.

Ein weiterer Punkt der Wiederannäherung, der auch Moskau am Herzen liegt: Die mögliche Reaktivierung des Gas-Pipeline-Projekts "Turkish Stream", das seit dem Flugzeug-Abschuss auf Eis liegt. Über diese Route will Russland den Transit (vorbei an der Ukraine) nach Griechenland und so in die EU organisieren. Die damit verbundenen Einnahmen könnte die Türkei in der aktuellen Wirtschaftsflaute gut gebrauchen.

Der Energie-Aspekt steht auch im Hintergrund der neuen Bande zu Israel, das die enormen Gas-Vorkommen vor seiner Küste, im Levantinischen Becken, ausbeuten will. Einerseits benötigt die Türkei diese Ressource für ihren ökonomischen Motor – wenn dieser wieder anspringt. Andererseits bietet sich das Land am Bosporus für die Weiterleitung nach Europa auch von dieser Seite an.

"Hitler übertroffen"

Dafür war Erdogan bereit, mit Israel nun "Frieden" zu schließen, nachdem er das Land noch während des Gazakrieges (2008/2009) bezichtigt hatte, "Hitler übertroffen" zu haben. Und nach der Erstürmung des türkischen Schiffes "Mavi Marmara" durch israelische Soldaten – das Schiff wollte 2010 Hilfslieferungen zu den Palästinensern nach Gaza bringen, zehn Türken starben – brach eine sechsjährige Eiszeit aus.

Mit diesen Initiativen stellt sich Ankara wieder breiter auf, zumal man dort mit der EU immer weniger am Hut hat. Zwar gibt es den Flüchtlingsdeal, aber die scharfen Anti-Terror-Gesetze will die Türkei partout nicht ändern – und setzt so sogar die Visa-Freiheit aufs Spiel.

Besonders schlecht zu sprechen ist die Türkei derzeit auf Deutschland – wegen der Armenien-Genozid-Resolution im deutschen Bundestag, der Affäre um das Erdogan-Spottgedicht des Satirikers Böhmermann sowie der ständigen Appelle zur Einhaltung der Menschenrechte.

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