Israel "klopft" an die Dächer im Gazastreifen

Wenn das nicht-explosive Geschoss auf das Dach des Hauses gefeuert wird, müssen die Bewohner innerhalb von drei Minuten das Gebäude evakuieren
"Roof Knock": Ein umstrittenes Warnsystem soll Palästinenser vor dem Tod schützen.

In der Nacht am 9. Januar 2009 schläft die Salha Familie in ihrem Haus im Gazastreifen. Unterdessen attackiert Israels Militär ausgesuchte, militante Ziele - von Hamas bewohnte Gebäude zum Beispiel. Um etwa drei Uhr morgens durchbricht eine nicht-explosive Rakete das Dach des Hauses und landet in einem der Zimmer. Was die Familie nicht weiß, die Rakete ist eine Warnung und in nur drei Minuten wird eine weitere, diesmal explosive, Rakete das Gebäude zerstören.

Die Zeit vergeht, die Familie entscheidet, ohne zu wissen was folgt, das Haus zu verlassen. Während der ersten Gruppe die Flucht ins Freie gelingt, erreicht der zweite Teil der Familie Salha bloß das Erdgeschoß. Sechs Familienmitglieder werden beim Angriff getötet.

Israel "klopft" an die Dächer im Gazastreifen
epa01594444 Palestinians carry the bodies of the Salha family, who were killed in an Israeli missile strike, Gaza City, 09 January 2009. The UN Security Council late 08 January urged Israel and Hamas to immediately end the Gaza conflict, a call that follows 13 days of fighting with more than 800 people dead and thousands wounded. EPA/ALI ALI

Vorwarnsystem

Seit Jahren bedient sich Israel Warnmethoden, um zivile Opfer zu vermeiden. Mit automatisierten Telefonanrufen informiert man die Bewohner, sie hätten ein paar Minuten Zeit ihre Sachen einzupacken und das Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. Auch im Vorhinein abgeworfene Flugblätter stellen ein adäquates Vorwarnsystem dar.

Bei der Operation "Gegossenes Blei" vom Dezember 2008 bis Jänner 2009 wurde zum ersten Mal ein "roof knock" (Deutsch: Dachklopfer) angewandt. Mithilfe einer nicht-explosiven Rakete, die von einer Drohne auf das Dach des Zielobjektes abgefeuert wird, werden Zivilisten aufgefordert das Haus zu verlassen. Nach drei Minuten wird das Gebäude von Israels Luftwaffe bombardiert.

Operation "Fels in der Brandung"

Fünf Jahre später habe sich weder bei der Taktik noch bei den Konsequenzen etwas geändert, erklärt der israelische Architekt und Schriftsteller Eyal Weizman gegenüber der englischsprachigen Version der Al Jazeera. Mit einem Team von der Universität Goldsmith in London hat er auf Anfrage der Vereinten Nationen (UN) die "roof knock"-Methode untersucht und kommt zum Schluss: die IDF (Israel Defense Forces) hat ein Werkzeug gefunden, das auch Angriffsziele (Gebäude) legitimiert, die von Zivilisten bewohnt werden.

Die juristische Argumentation der IDF? Israel wäre die einzige Armee, die vor Luftan­grif­fen warnt und die den Men­schen die Möglichkeit gibt, noch aus dem Haus zu fliehen. Das bedeute, wenn Zivilisten trotz "roof knock"-Warnung das Gebäude nicht verlassen, können sie als militante Gegner oder Kollateralschäden angesehen werden, so Weizman.

IDF dreht ab

Vergangene Woche veröffentlichte die IDF ein Video, in dem sie die Bewohner eines Zielobjektes zunächst vorwarnen und anschließend auf einen Angriff verzichten. Ein shitstorm folgte und Twitterianer sprachen von Propaganda und Vertuschung wahrer Tatsachen. Israel gibt indes die Schuld der radikalislamischen Hamas, die Palästinenser davor warnt das Haus nach einem "knock roof" zu verlassen.

Zuvor hatte die rechte Knesset-Abgeordnete Ayelet Shaked die palästinensischen Zivilisten als legitime Ziele von Angriffen bezeichnet.

Unter dem Deckmantel

"Auch wenn die Intention der nicht-explosiven Rakete eine Warnung ist", erörtert Weizman, "ist es illegal, das Feuer auf Zivilisten zu eröffnen." Es sei "lächerlich" zu glauben, dass im Chaos des Angriffs, Menschen die Warnung verstehen und "empörend" zu behaupten, dass man dadurch viele Leben rette.

Weizman, der die Attacke an die Salha Familie zurückverfolgt hat, kommt zum Schluss, dass das Haus weder ein militärisches Hauptquartier der Hamas gewesen sei, noch Waffen darin gelagert wurden. Es war, so der Forscher, ein Fehler der IDF, den sie auch später eingestanden. Das ändere aber nichts daran, dass sechs Zivilisten ums Leben kamen.

Keine Warnung

Dass die Anzahl der zivilen Opfer hoch ist und stetig steigt, bestätigt ein Bericht der UN: 77 Prozent der über 200 getöteten Menschen im Gazastreifen sind Zivilisten - viele von ihnen sind Verwandte und Bekannte von Mitgliedern bewaffneter Gruppen, die sich während der Luftangriffe in ihren Häusern aufhalten.

Vor einer Woche wurde der Körper von Hafez Hamad - eingewickelt in einem Leichentuch - nach Beit Hanun gebracht, eine Stadt im Norden des Gazastreifens. Verwandte und Bekannte trauerten um das Mitglied der militanten Gruppe "Islamischer Dschihad in Palästina" und um fünf zivile Opfer, die sich beim israelischen Luftangriff nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

"Normalerweise feuern sie erst eine Warnrakete ab, damit die Hausbewohner noch fliehen können", erzählt eine Frau, die nicht beim Namen genannt werden will, gegenüber dem britischen Telegraph. "Aber dieses Mal ging alles viel zu schnell. Das ist ein Verbrechen."

Vor gut einer Woche hat Allen Sørensen, Korrespondent der dänischen Zeitung Kristeligt Dagblad im Nahen Osten, auf einem Hügel in Israel, nahe des Gazastreifens, folgendes Foto getwittert:

Ein Dutzend Menschen haben sich auf dem Hügel eingefunden. Auf ihren Plastikstühlen sitzend und Popcorn essend, bejubeln sie jeden erfolgreichen Angriff ihres Militärs im Gazastreifen. Wenn eine Rakete einschlägt, wird applaudiert.

In einem Telefon-Interview mit der New York Times sagt der dänische Redakteur, es sei nichts Neues, dass sich Israelis versammeln und ihrem Militär zujubeln. Ähnliche Szenen haben sich bereits im Gaza-Krieg von 2009 zugetragen.

Auch, dass Palästinenser auf der anderen Seite der Grenze applaudieren, wenn Raketen der Hamas in Israel niedergehen, sei alltäglich. Sørensen spricht von "dehumanizing the enemy" (dt. Entmenschlichung des Feindes). "Dieser Prozess findet während des Krieges statt", betont der Korrespondent.

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