Wahltag in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan

Jubelnde Massen bei Erdogan-Wahlveranstaltungen.
Vom Premier- in den Präsidentensessel: Regierungschef Erdogan steuert heute mit einem Wahlsieg die Allmacht in seinem Land an. An Selbstbewusstsein mangelt es ihm und der Türkei nicht.

Türkische Außenpolitiker gingen in den vergangenen Jahren mit einem vollmundigen Anspruch ans Werk: "Null Probleme mit den Nachbarn", hieß die Leitlinie, mit der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Außenminister Ahmet Davutoglu die umliegende Region betrachteten. Doch die großen Pläne sind gründlich gescheitert, Ankara hat inzwischen mit vielen Nachbarn Krach. Statt "null Problemen" habe die Türkei heute "null Freunde", lautet ein Witz in der türkischen Hauptstadt.

Selbst mit US-Präsident Barack Obama liegt Erdogan mittlerweile im Streit. Die beiden Politiker, die sich lange gegenseitig als enge Partner und Freunde beschrieben, sprechen nicht einmal mehr am Telefon miteinander. Wenn Erdogan etwas mit Washington zu bereden hat, dann telefoniert er mit Vizepräsident Joe Biden. Der Grund: Er sei enttäuscht über die Zurückhaltung der USA im Syrien-Krieg und über die Haltung Washingtons im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, sagte Erdogan kürzlich.

Sollte er heute die türkische Präsidentenwahl gewinnen, wie es alle Umfragen vorhersagen, dann wird eine Frage lauten, wie Erdogan die Regionalmacht Türkei in der Weltgegend zwischen Europa, Asien und Nahost positioniert und wohin er das wichtige Land an der Südostflanke der NATO steuert. Wird er die Wiederannäherung an die Nachbarn und an die EU versuchen und das Verhältnis zu Obama reparieren?

Nicht unbedingt. Erdogan spricht von einer "neuen Türkei", die ihr Haupt nicht vor anderen Mächten beuge. Während der jüngsten Offensive Israels im Gaza-Streifen verglich er den jüdischen Staat mit dem Hitler-Regime und wies die Kritik der Führungsmacht USA an seinen wüsten Formulierungen zurück, indem er fragte: "Hey Amerika, was weißt du denn schon über Hitler?"

In Erdogans Umfeld wird die Theorie von einer neuen Türkei, die bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen nicht davor zurückschreckt, dem Westen auf die Füße zu treten, offensiv vertreten. Erdogans Wirtschaftsberater Yigit Bulut, dem erheblicher Einfluss auf den potenziellen Präsidenten zugeschrieben wird, plädiert offen dafür, dass die Türkei ihre Verbindungen zur EU kappen sollte.

Neue Weltordnung

Laut Bulut zeichnet sich eine neue Weltordnung ab, in der ein amerikanischer, ein südostasiatischer und ein eurasischer Block entscheidend sein werden. Für die EU sei da kein Platz. Bulut empfiehlt deshalb, die Türkei solle sich an Russland annähern. Den Europäern wirft er vor, den Aufstieg der Türkei verhindern zu wollen.

Große außenpolitische Erfolge hat die Erdogan-Regierung mit diesem Kurs bisher allerdings nicht feiern können, im Gegenteil.

Nach dem Beginn des Arabischen Frühlings vor drei Jahren hatte die Türkei noch gehofft, sich als Vorbild für eine westliche Demokratie mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit empfehlen und so ihren Einfluss ausweiten zu können. Sie unterstützte vor allem sunnitische Akteure wie die Hamas und die Muslimbruderschaft und trat als Kämpferin für Demokratie und Menschenrechte auf. Ankara wähne sich zwar auf der "richtigen Seite der Geschichte", habe sich aber mit rigiden Positionen in der Region isoliert, schrieb der Ex-Diplomat Sinan Ülgen vom Politikinstitut Carnegie Europe kürzlich in der Zeitschrift The National Interest.

Jede Menge Krach

Heute stecken die Beziehungen der Türkei zum Irak, zu Syrien, zu Israel und zu Ägypten in der Krise, und auch mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt es Krach. Im EU-Beitrittsprozess geht schon lange nichts mehr voran. Die für Ankara wichtige Zusammenarbeit mit den USA funktioniert noch, wird aber durch die atmosphärischen Störungen zwischen Erdogan und der Obama-Regierung beeinträchtigt.

Auf kurze Sicht ist kein radikaler Kurswechsel zu erwarten. Politiker, die bisher die Außenpolitik gestaltet haben, dürften auch weiterhin am Hebel sitzen. Außenminister Davutoglu ist bei einem Wechsel Erdogans ins Präsidentenamt als Ministerpräsident im Gespräch, Geheimdienstchef Hakan Fidan als neuer Außenminister.

Serhat Erkmen, Politologe an der Ahi Evran Universität in Kirsehir, geht davon aus, dass ein Präsident Erdogan außenpolitisch so weitermachen wird wie bisher. "Im Fall von Israel, Irak, Syrien oder Ägypten ist der Punkt, an dem man umdrehen kann, längst vorbei", sagt Erkmen.

Bei akuten Gefahren wie beim Vormarsch der Dschihadisten-Gruppe IS im Norden Iraks könnte die Türkei allerdings zu Kooperationen bereit sein. So könnten die jetzt von Obama genehmigten US-Luftschläge gegen die Dschihadisten von Luftwaffenstützpunkten in der Türkei aus gestartet werden. Ein direktes Eingreifen der Türkei selbst ist nicht zu erwarten: Ankara will das Leben von fast 50 türkischen Geiseln, die seit zwei Monaten von der IS im Irak festgehalten werden, nicht aufs Spiel setzen.

Sedat Saritas hat seine Stimme nicht abgegeben. Der 40-jährige Pizzakoch aus Wien-Brigittenau gehört zu der überwältigenden Mehrheit in Österreich lebender türkischer Staatsbürger, die am vergangenen Wochenende der Präsidentschaftswahl fernblieben. Wie berichtet, ließen sich von den bundesweit 90.000 wahlberechtigten Türken nur rund 6600 für den Urnengang registrieren.

Für den Soziologen Kenan Güngör hat die geringe Wahlbeteiligung mehrere Gründe. Zum einen sei der Wahlvorgang "höchst kompliziert" gewesen: "Man musste sich extra registrieren lassen, um wählen zu können. Und dafür wiederum brauchte man eine Meldebestätigung, um zu beweisen, dass man als türkischer Staatsbürger in Österreich lebt. Erst wenn man alles vorgelegt hat, bekam man einen Termin für die Stimmabgabe zugewiesen. Das war den Leuten alles neu – da gab es keine eingespielte Praxis. Um wählen gehen zu können, war viel Eigeninitiative und Eigenrecherche nötig."

Zum anderen verweist der Experte auf den Faktor Urlaubszeit: "Viele Türkischstämmige sind zurzeit in der Türkei und haben ihre Stimmen an den Flughäfen abgegeben", erklärt Güngör.

Und letztlich dürfe man auch das Interesse an den politischen Entwicklungen in der alten Heimat nicht überschätzen. "Viele Türken, die in Österreich leben, haben zwar noch Familie in der Türkei, daher bleiben sie dem Land emotional verbunden. Die politischen Entscheidungen, die dort getroffen werden, betreffen ihren Alltag in Österreich aber nicht direkt."

Kritik an Wahlbehörde

Ähnliche Argumente führt der politische Aktivist und erklärte Erdogan-Sympathisant Fatih Köse (New Vienna Turks) ins Treffen. Er hätte sich zwar eine höhere Wahlbeteiligung gewünscht, war von der immens niedrigen aber nicht überrascht.

Zum Einen, so meint er, habe es der "Hohe Wahlrat" – die YSK – den Auslandstürken "nicht gerade leicht gemacht", ihre Stimmen abzugeben. Als Beispiel nennt er die komplizierte Termin- (oder wie es im Türkischen heißt: "Rendezvous"-)Vergabe. Zum anderen "haben viele Türken ihren Lebensmittelpunkt mittlerweile in Österreich."

Nicht-Wähler Sedat Saritas bestätigt die letztgenannte Einschätzung vollinhaltlich: "Ich bin in Österreich zufrieden und will hier bleiben. Darum interessiert mich die türkische Innenpolitik nicht mehr als die Weltpolitik allgemein."

Ganz anders sieht das Ümit Cakmak (21). Er will hier nur sein Politikwissenschaftsstudium abschließen und dann in die Türkei zurückkehren. Die Wahl bedeutet für ihn eine historische Chance: "Zum ersten Mal wird der Präsident von der Bevölkerung gewählt und nicht vom Parlament bestimmt. Durch meine Stimme möchte ich den Lebensstandard in der Türkei mitbeeinflussen." Wen er gewählt hat, verrät Cakmak jedoch nicht.

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