"Der Einzige, der seine Meinung sagt"

Wahlkampf-Tour von Haus zu Haus: Nigel Farages liebste Kundschaft sind ältere Briten in ärmeren Gegenden, die gerne Europa für ihre Nöte und Ängste verantwortlich machen.
Wahlkampf in Großbritannien: Das verfallene Seebad Ramsgate ist Hochburg von Europa-Hasser Nigel Farage.

Mit seiner Marina voller Segelboote und seiner romantischen viktorianischen Hafenfront erscheint das britische Ramsgate auf den ersten Blick wie ein schmucker Tourismusort. Wenn das Wetter mitspielt, sieht man übers Meer fast bis hinüber zum Kontinent.

An jenem Ende des Hafens, wo der Sandstrand beginnt, bieten in trauter Nachbarschaft Peter’s Fish Factory die "große britische Erfindung Fish & Chips" und das Belgian Café kontinentale Muscheln und Fritten an. Doch nur ein paar Lokale weiter dringen lebhafte Stimmen aus einem Gastgarten: "Na klar wählst du Cameron, du willst ja auch ein Banker werden!" "Wenigstens geh ich nicht UKIP auf den Leim!"

An einem runden Tisch sitzt eine jugendliche Gesellschaft und debattiert über das Thema, dem man hier nirgends entkommen kann: Dies ist der Wahlkreis South Thanet, in dem kein Geringerer als Nigel Farage, der Chef der europafeindlichen rechtspopulistischen UK Independence Party, seinen Sitz im Unterhaus erobern will.

"Brüssel bestimmt"

Seit Monaten schon agitiert seine Fraktion in der Stadt, und die Propaganda hat sichtlich gefruchtet. "Nigel Farage ist der Einzige, der wirklich seine Meinung sagt", meint einer der Jugendlichen und beklagt, "dass Brüssel unsere Gesetze bestimmt", sowie "Probleme" mit Einwanderern aus dem europäischen Ausland.

"Was für Probleme denn?", will sein Sitznachbar wissen. "Du fragst das so, als wäre ich ein Rassist", sagt der Erste und entlockt den beiden Mädchen am Tisch damit ein verlegenes Kichern. So wie der Wortführer wollen auch sie am 7. Mai UKIP wählen, sein Kontrahent am Tisch tendiert dagegen zu den Konservativen, ein dritter Bursch ist noch unentschlossen. Auf die anderen Parteien angesprochen, nennen alle einstimmig die Grünen als ihre zweite Wahl, die Erwähnung der Labour Party löst dagegen bloß Gelächter aus.

Wer von der täuschend sonnigen Seepromenade ein bisschen stadteinwärts vordringt, dem offenbart sich bald die Tristesse, die UKIP hier in Proteststimmen umsetzt: Leer stehende Lokale, triste Wettbüros, speckige Fast-Food-Läden. Von der Fassade der Harbour Bar hängen schlappe England-Fahnen, darunter stehen bartstoppelige Männer mit Verlierermiene, ausgebleichten Tattoos und halb leerem Bierglas in der Hand.

Tatsächlich ist die durch einen Kanal von der Hauptinsel getrennte Isle of Thanet am östlichen Ende der Grafschaft Kent trotz ihrer relativen Nähe zu London eine der ärmsten Gegenden Großbritanniens. Die Arbeitslosigkeit ist hier doppelt so hoch wie im Schnitt des englischen Südostens. Einst machte die Londoner Mittelklasse in Ramsgate Sommerfrische. Heute ist die alte Anlegestelle für Luftkissenfahrzeuge längst überwachsen, die Passagierfähren nach Ostende und Zeebrugge wurden eingestellt, sogar der nahe gelegene Flughafen Manston ist eingemottet. Seine Wiederbelebung ist eine der lokalen Forderungen der UKIP.

Den Kern ihrer Agenda treffen aber die UKIP-Plakate an der Stadteinfahrt: Eine Fotomontage zeigt Rolltreppen, die auf Englands weiße Kreidefelsen hinaufführen, als optisches Gleichnis für Großbritanniens offene Türen gegenüber einer mutmaßlichen Invasion billiger Arbeitskräfte.

Dabei macht sich im Stadtbild von Ramsgate noch ein ganz anderer Bevölkerungswandel bemerkbar, nämlich der stetige Zuzug junger Künstler und Musiker auf der Flucht aus dem unleistbar teuer gewordenen London. An einem schicken Secondhand-Shop namens "So Last Century" hängt etwa demonstrativ eine EU-Fahne, in der Auslage dazu ein Poster: "Wehrt euch gegen UKIP! Nein zum Rassismus!"

Dauerdemo gegen UKIP

"Es ist schwer standzuhalten, wenn eine Partei ihre ganze Energie auf diese Stadt konzentriert", sagt Michael, ein Familienvater Ende Dreißig. Er war einer der ersten Londoner, die den heruntergekommenen Charme dieser Stadt für sich entdeckten. Von Hauptberuf ist er Schlagzeuger bei einer erfolgreichen Indie-Band, nebenher betreibt er mit seiner Frau ein Szene-Lokal. Unter seiner Kundschaft wählt niemand UKIP, aber es gibt Konflikte über die richtigen Gegenstrategien, zum Beispiel zwischen jener jungen Aktivistin, die Benefizkonzerte für Labour veranstaltet, und dem charismatischen Pub-Wirten von nebenan, der für die seltsame, freigeistige Reality Party kandidiert.

Michael selbst stößt die aggressive Taktik mancher Demonstranten auf, die täglich die beiden UKIP-Parteilokale in der King Street belagern. "Mittlerweile ist es für UKIP billiger, rund um die Uhr Securities zu mieten, als dauernd die Schaufenster neu verglasen zu lassen", sagt er. "Von außen sieht das dann so aus, als wären die Gegner von Farage ein Haufen Verrückter. Hilfreich ist das nicht."

Nach dem Wahltag wird es hier wieder ruhiger werden. Sollte Nigel Farage seinen Sitz in Westminster erobern, wird er sich kaum mehr so oft in South Thanet blicken lassen. Falls er verliert, hat er versprochen, als Parteichef zurückzutreten. Letzten Umfragen zufolge halten Konservative, Labour und UKIP jeweils bei rund 30 Prozent, für Farage liegen also Triumph und Desaster gleich nahe. Wie immer sein Gamble ausgehen mag, den sozialen Wandel in Ramsgate wird UKIP so oder so nicht aufhalten können.

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